Mikrokosmos light

Wenn ich mir überlege, dass jeden Tag ein Gedicht geschrieben werden könnte, jeden Tag ein Text, ein Brocken, ein Satz oder Halbsatz, dann kommt mir auch in den Sinn, wie abgeschirmt man dann leben müsste. (dieser alte Elfenbeinutopismus. Bücher, keine Menschen. Der Blick geht auf etwas wie Horizont, eine Ferne, die sich ausagiert, und zwar zu mir hin. Wellen, Meer, irgendwas in Bewegung, können auch Büsche sein, Gestrüpp. Oder Pappeln, deren Blätter, deren silberne R ückseiten, die aufblinken im Wind, und ihr Rauschen, ihr Raunen, ein Gewisper, das für immer unverständlich bleiben wird und offen und immer alles mögliche sein wird, Gemurmel, das in mein Gemurmel umschlägt.)

Man, das ist ich. Aber ich lebe in abertausend Augenblicken, die ein- und umschlagen ineinander ohne dass ich meine Hand heben könnte. Gut, das ist so eine verschwurbelte Ausrede fürs Nichtstun. Ich seh mich an und leg mich auf den Seziertisch, untersuche mich. Was ist das. Dass alles schwer sein muss, schwer im Sinne von unmöglich, wissen wir seit Rainer Maria. Rainer Maria Rainer Maria, es schallen immer die Vornamen bis in meine Nachtträume. Ganz Paris kommt mir entgegen als Postkarte. Als eine Ansicht. Das habe ich: Eine Ansicht von etwas. Meinen eigenen Ausschnitt. Und der ist alles, was ich habe. (was ich habe, ist alles.)
Etwas, das man begreift, kann einem nicht mehr genommen werden. Das geht auf im jeweils nächsten Begriffenen. Und so weiter bis zum Schluss. Wenn jeden Tag mehr Zeit kommt, dann hängt an diesem Anwachsen von Zeit auch irgendwas Metaphorisches. Ich hab immer das Gefühl, jemand will, dass ich drauf komme. Wie ist das gemeint? Heißt Zeit haben Zeit haben oder nicht haben (weil sie mir sinnlos zwischen den fingern wegrieselt)? Andererseits: wieso abgeschirmt? Bin ich ein schlechter Mensch, weil ich die Werbe-mail „massensterben der kinder im südsudan - stoppen sie den hunger!“ ungelesen lösche? Nein, ich will von allen Problemen, die nicht meine sind, nichts wissen. Ich will nur von meinen Problemen etwas wissen. Aber da ist der Haken, da hakts. Meine Probleme sind voller Probleme, die nicht meine sind. Wie eine aufgelöst sprudelnde Brausetablette wabert die Weltgeschichte in „meinen“ Problemen. und ich nehme mir extra nichts vor, ich lasse die Sprache rieseln. (Sprache rieselt wie Zeit.) Ich lasse mich von sprache berieseln. Das ist es.
Also berieselt mich zeit. Ich staube ein, wenn ich mich nicht bewege, das heißt, wenn ich kein Gedicht schreibe. Dieses Ding, das in keine sonstige Aktivität passt. Das Ergebnis einer in mir wabernden Gegenwart. Wie eine Schneekugel, die alles in sich enthält, und dennoch nur Plastik, Glas oder was immer ist. Nachgebaute Landschaft. Mikrokosmos light.

Marcus Roloff