Hans Thill: „-münde“
Möwen hatten alle Bullaugen und am Restorang
die Panoramascheiben zerpickt der Südost
raspelte übers Blech

wir hefteten einen pensionierten Amtmann
(Leukoplast) als Kapitän ans Ruder
knebelten ihn mit einer Trillerpfeife

Peenestrom im queren Polar
wir eine Besatzung aus Inselvieh
und die Damen gingen auf wie Kaiserbrötchen

auf den Planken wuchs Moos
Flachs blitzte aus den Dachrinnen der
Verwaltungsgebäude beim Kraftwerk

hinter der Schranke wurde alles zu Algen
gesponnen wir Salzpreußen mit nagelnden
Ventilen strickten Taue aus dem Material
während die Damen ihr verklebtes
Gefieder leckten

im feingefügten Nebel (süßer Tee, süßes Kerosin)
stand ein Pastor schief in den Schuhen
der sein Wasser aus blauen Kanistern schöpfte

und wir zogen gedroschene Säcke
durch den hellen Staub plötzlich
als Mädchen und Knaben im selben Habit
dem Gesicht einer freundlichen Greisin entsprungen

kühle Stirn hinter dem Vorhang
aus Winkelementen und ihr Mund
öffnete und schloß sich nach einer
Schunkelmusik


(aus: Hans Thill „Kühle Religionen“. Gedichte, Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2003)



Welcher Städtename böte sich an, um den Titeltorso zu vervollständigen? Das zur Stadt Rostock gehörende und touristisch bestens ausgeleuchtete Ostseebad Warnemünde ist hier wohl nicht gemeint. Wahrscheinlicher ist das weiter östlich auf der Insel Usedom gelegene Peenemünde, das – ich bin mir jetzt sicher – in diesem Gedicht auf kubistisch zerklüftete Weise zur Sprache kommt und mit interessanter Vorgeschichte aufwartet. Hier gab es ab 1936 die so genannte Heeresversuchsanstalt, in der unter anderem die Wunder- und Vergeltungswaffe V2 getestet wurde. Das Gelände mit angegliedertem KZ-Außenlager gilt aller Barbarei zum Trotz als frühe Weltraumforschungsstation. Zur Energieversorgung diente ein eigenes (Kohle-)Kraftwerk. Peenemünde ist zugleich ein Ort mit sprechendem Namen, der auf mehrere Quellflüsse der Peene und diese selbst verweist, und die wiederum den Meeresarm namens Peenestrom bezeichnet, welcher Usedom vom Festland trennt. Für den aus Baden-Baden stammenden Autor dieses Gedichts, das sich in dem 2004 mit dem Peter-Huchel-Preis prämierten Band „Kühle Religionen“ findet, liegt er „im queren Polar“ – ihm muss der Mecklenburger Ostseeraum immens nördlich vorgekommen sein. Als Kind waren mir die Zuflüsse der Peene kaum mehr als Bachläufe zwischen verstreuten Pappelhainen, die sich unhörbar in die Ferne verschoben und deren Wasser, wie mir meine Großmutter erzählte, im Frühjahr 1945 voll waren von gestrandeten Selbstmördern aus Demmin.

Bei Hans Thill (* 1954) steckt das Grauen der Vergangenheit zwischen den Zeilen, dasjenige der Gegenwart jedoch mittendrin. Der Blick fällt zunächst auf eine Art Jetztzeit, die hier wie ein Spurenträger des Vergangenen fungiert. Die Echtzeitbausteine, aus denen das Gedicht besteht, könnten in etwa so aussehen: Man sitzt im Bordrestaurant einer Fähre, zum Frühstück oder zur Teezeit, schaut hinaus in eine vom Wind zerzauste Winterlandschaft und treibt ob aller bis heute anhaltenden ostdeutschen Nachkriegstristesse ziemlich grobe, ins Phantastische spielende Späße. Dass sich dabei – quasi um diese Bausteine herum – Menschen-, Technik- und Tierwelt ineinander verschieben, ist einer der Vorzüge dieses Gedichts. Thills Poesie schlägt Funken, sie zeigt sich vom europäischen Surrealismus beeinflusst, vor allem der französischsprachigen Moderne und Gegenwart, deren Autoren er zum Teil selbst übersetzt hat. Wenn in „-münde“ die Damen wie Kaiserbrötchen aufgehen und ihr Gefieder lecken oder der Pastor schief in den Schuhen steht und hinter der Schranke alles zu Algen (gesponnen) wird, dann dürfte das nicht unmittelbar einleuchten; dann steht hier womöglich eine Optik im Raum, die die Dinge jäh verzerrt und Wirklichkeit unhaltbar macht. Und wir Leser müssen uns das Jähe und Unhaltbare übersetzen in eine Sprache, die mit uns zu tun hat, sonst bleibt das Gedicht nur Gedicht, eine ferne in Druckwerken stehende Sache, und das wäre eine Art Todesurteil für das Gedicht.
Hans Thills Gedicht „-münde“ taugt im besonderen Maße dazu, sich in die Reibungsvorgänge der Lektüren zu begeben, weil es bei allem Aufbrechen und Verschieben von Oberflächen, die jedem bekannt sind, auf jegliches tiefgemeinte Raunen verzichtet und Konstellationen heranzoomt, die mit dem Erinnern zu tun haben – und zwar als Traum, als im Gedächtnisraum gespeicherter Wirklichkeit. Apropos zoomen: „-münde“ ist mit seinem Panoramablick einem in Weitwinkel aufgenommenen Clip vergleichbar, dessen Bilder nicht nur lange in Erinnerung bleiben, sondern dessen Erzählung uns – auf womöglich halb versteckte Weise – einbezieht. Wir können hier viel über den Prozess der Erinnerung lernen, auch und gerade, weil es sich nicht um unsere eigene handelt. Wie etwas wirklich war, ist zweitrangig, entscheidend vielmehr, wie sich die Dinge beim Blick in den kaleidoskopisch-ungebändigten inneren Strom darstellen – ständig, wie die Wirklichkeit auch, in der Gefahr, aus dem Ruder zu laufen.

In seiner Dankrede zum Erhalt des Peter-Huchel-Preises gibt Hans Thill ein Beispiel für die Beschaffenheit der Wahrnehmung hinsichtlich eigenartiger und schräger Konstellationen, die bereits die Wirklichkeit bereithält und die sich im Gedicht weiter transformieren: „Nicht weit von der Heidelberger Synagoge steht an einem Transformator-Kasten die kalligraphierte Graffiti-Parole ‚Nie ohne Kappe!‘ Der Weg des mosaischen Gebots, immer den Kopf bedeckt zu halten, eine Erfindung des Judentums, die der Islam sich aneignete, viele Jahrhunderte später mit der Sekte der Black Muslims in die Schwarzenghettos der USA gekommen, dort in die Mode hineingesickert und von den Gangsta- und Rap-Stars kopiert, bis zu den Heidelberger Hängehosen und Rappern, nie gehen sie ohne ihre Mütze aus dem Haus, die sie als Marke an dem grauen Kasten hinterließen: Wäre mir diese Transformation am Trafo-Häuschen aufgefallen, wenn ich sie nicht in der Nähe der jüdischen Versammlungsstätte gesehen hätte?“

Marcus Roloff


(zuerst erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2017)