hinter den Pferdchen
bleiben wir zurück
wie sie entschwinden
im schwerelosen Trab
und ziehen Kutschen die
einst Mist und Holz und
feuchten Klee fuhren über
die Krakelwege bis ins
verdunkelte Gehöft nahe
Grodek
heute den Budenmarkt
mit Grenzgängern Ausflüglern
auf traumglatter Chaussee
unter polnischen Schatten
bleiben wir zurück bei
Blaubeeren wohlfeil
dem nahen Meer einer
Wolldecke Wald
aus: Olaf Velte, Schindäcker rauhe Gärten. Gedichte,
Stadtlichter Presse, Wenzendorf 2008
Möglicherweise neigt alles Vergangene im Modus der Aneignung und
Darstellung dazu, eine einseitige, vereinfachende Perspektive einzunehmen
eine solche, die sich von vornherein bestens auszukennen meint
und darauf vertraut, die Blank Spaces of History (Don DeLillo)
mit Fremdwissen füllen zu können. An diesem Problem arbeitet
sich die Geschichtswissenschaft mutmaßlich weniger aufsehenerregend
ab als jene Textgattung, die sich Fiktion nennt, insbesondere zeitgenössische
Lyrik, in der es immer wieder zu dem Versuch kommt, zeitlich Entlegeneres
in disparater, subjektiv-gestauchter oder -gedehnter Sprache sichtbar
zu machen. Das Füllen von Wissenslücken, in denen die einmalige
und objektive Abfolge von Geschehnissen unsichtbar bleibt, ist immer auch
ein Akt der Phantasie, und damit der Willkür. Realität wird
auf Verdacht hin konstruiert, auf traumglatter Chaussee, wie
es im Gedicht Swinemünder Chaussee des bei Frankfurt
im Taunus lebenden Dichters Olaf Velte (* 1960) heißt.
Doch alles Historisieren im Gedicht muss sich die Frage nach Schlüssigkeit
und Binnenperspektive gefallen lassen. In der Regel wird ein wenig impressionistisch-mnemonisch
darauf gebaut, durch Einfühlung in den historischen Stoff und die
Nennung von Eigennamen Bewusstwerdung und Aufarbeitung in Gang zu setzen,
also etwas, das mehr als nur Gedicht sein will, etwa eine Magna Charta
der Völkerverständigung oder eine Art Rede an die Nation. Davon,
dass es auch anders geht, zeugt zum Beispiel das Werk Johannes Bobrowskis
(1917-1965), dem es um die Klage über die in einem irrsinnigen Krieg
versunkene Kindheitslandschaft ging, deren zersprungenes Bild er in seiner
Poesie neu zusammenzusetzen versuchte. (Dass sie mit den Jahren auch unter
erschwerten Bedingungen völkerverständigende Kräfte freisetzt,
ist dabei umso schöner.)
In dieser im weitesten Sinn naturlyrischen Tradition steht auch Olaf Velte,
der hier in melancholischem Tonfall die Gegenwart der Vergangenheit aussetzt,
oder umgekehrt, die Vergangenheit unserer Gegenwart womit bekanntermaßen
die oben angedeuteten Schwierigkeiten beginnen. Es geht in diesem Gedicht
um die Grenzen zwischen Staaten und Epochen, aber auch des Verstehens,
um etwas das sich abwendet und das, was zurückbleibt, wenn man keine
Sprache mehr hat. Zunächst mutet es schlicht wie der Blick eines
Polenbesuchers an, der hier auf die Dinge fällt. Die Ruhe, mit der
dies geschieht, scheint einer Traumsequenz entnommen, die Zeilen gleichen
einer Abfolge im schwerelosen Trab. Dem Wir, von dem es zweimal
heißt, dass es zurückbleibe, entspricht die Perspektive dieses
den Rätseln der Gegenwart nachspürenden Blicks.
Gleich zu Anfang wenden die Pferde sich ab und reiten hinaus aus dem Jetzt
in das Einst bis nach Grodek, Schauplatz einer Schlacht im Ersten Weltkrieg
und Titel eines der letzten Gedichte Georg Trakls (1887-1914) womit
sich die Weitläufigkeit auch intertextueller Bezüge mittels
eines einzigen Ortsnamens eröffnet. Der (für den Moment) kaum
zu entschlüsselnden Gegenwart steht ein Gestern gegenüber, das
in seiner Fülle nicht erfasst, wohl aber als kollektiver Gedächtnisraum
umrissen werden kann. Mit der dritten Zeile wechselt das Gedicht dann
direkt in eine Art Traummodus, der die Perspektiven vertieft und die bäuerische
Vormoderne erkennbar macht als historische Schicht, deren Spuren bis heute
existieren und die eine Gegenwelt zum bundesdeutschen Uptempo darstellt.
Der Leser weiß unmittelbar um die Signalwirkung der aufgerufenen
Ortsnamen, er weiß, dass sie inmitten jener Veränderungen stehen,
die den Bruch markieren, der durch die Geschichten geht und der
Geschichte als überpersönliche, ja blinde und blindwütige,
bewusstlose Walze offenbart. Es sind buchstäblich Grenzgänge,
die dieses Gedicht unternimmt, um sich unserer Gegenwart angesichts ihrer
Verwurzelung in Krieg und Nachkrieg zu vergewissern. Am Ende bleibt nur
ein touristischer Snack, der Blick in die sich hier wie dort ähnelnde
Landschaft und die Sehnsucht, trotz aller Verbrechen einen Ort zu finden,
der einen wenn auch nur auf Verdacht sein lässt.
Marcus Roloff
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