Eintritt aus der Nacht |
Diese Zeit Mitte der Neunziger, alles war im Kommen, ich ein
Zugezogener, rannte die LSD-Ecken ab, kam mit dem Schreiben voran, lag
auf Matratzen in fremden zwischengemieteten Wohnungen, las auf dem Klo
liegengelassene Berliner Illustrierte mit Anderson auf dem Cover,
lungerte vor Galrev rum, trank was im Kiryl, erwartete Briefe, schrieb
keine eigenen, traf Leute, die Lyriker waren, Tote wie Anemone Latzina
oder Lebendige wie Kiev Stingl, war verdruckst, bis zum Anschlag
verquatscht und beeindruckt, später die Wohnung in der Dunckerstraße
mit J., meinem besten Freund, wir grasten die Gegend ab, hockten bis
früh im Schliemann, im Torpedokäfer, in einem Ding namens Nox, Ecke
Stargarder, diese Nächte, besonders im Sommer, zurück nachhause um
vier, hellwach vorbei an den rauschenden Pappeln hinter der
Wichertstraße, in der Ulrich Zieger wohnte, den wir des Öfteren trafen,
nachts, frühestens ab zwei Uhr morgens erschien er, immer allein, trat
wie nach irgendwelchen ausgedehnten Spaziergängen aus der Nacht in das
dunkle Licht der Lokale, ich hatte Angst vor seinem Blick, denn der
bohrte sich rein und hielt dort stand und fragte und wollte wissen, was
es bedeute, das ich redete, und ich redete was, so ein aufgescheuchtes
in die Gegend Reden war das, aus Furcht, mit Nichtreden alles noch
unerträglicher zu machen, denn das war es, unerträglich, dazusitzen
beim Bier und nichts (nichts, nichts) zu haben als ein Gelaber, am
besten konnte ich das beim Thema Lektüren, deren eine Rimbaud war, die
Seherbriefe, die Saison in der Hölle, das Verstummen, er sah mich mit
hochgezogener Braue an und schwieg, in der Rückschau verschwimmen die
Eindrücke, mein Bild von ihm überlagerte sich für einen Augenblick mit
dem von Rimbaud, dem, der in Somalia mit Waffen handelt und
Expeditionen ausrüstet und keine Lust mehr auf ausgedachte Lyrik hat. Als ich etwa zwanzig Jahre später, am 24. Juli 2015, abends gegen halb sieben im Frankfurter Restaurant Margarete hörte, dass er am 23. Juli 2015 in Montpellier verstorben sei, stand mir sofort dieser Blick vor Augen, darin nordafrikanische Nächte irrlichterten oder ein tiefes Schweigen wohnte oder das krass Stechende dieses Blicks, was immer mir jetzt nachträglich für dieses unerhört weit Zurückreichende, Zerklüftete seines Blicks einfällt. Ich empfand ihn als Bedrohung. Natürlich war zwischen ihm und mir eine Wand. Natürlich war er jemand, den mehr Einsamkeit umgab als andere. Klar war er das Gegenteil von allem möglichen Gegenwärtigen. Einmal wollte er Gedichte von mir haben, die ich ihm am Tresen auf Blättern herüberreichte, ihm gefiel eine Zeile, sagte er später, die ungefähr so ging: es kam, die wir riefen. Der Wortlaut meines mythischen Raunens, also eines Sprechens, das selbst Mythologie sein will, indem es nichts weiter tut als Angelesenes zu kommentieren, ist mir zum Glück entfallen. Fertig war ich damit leider noch nicht. Sein Sprechen hingegen war vollgesogen mit uralten Nächten, deren Düften, Delirien, den Schwellen zum Morgen, könnte sein, dass seine Gedichte, wie ich mir damals dachte, in der Fluchtlinie Rimbaud, Trakl, Celan, Hilbig stehen, könnte sein, dass sie das wenige sind, das überdauert und auch in hundert Jahren noch gelesen werden wird, wenn wir über die Nacht hinaus und ebenfalls tot sein werden. Marcus Roloff |