ANARCHISMUS ALS GEGENMODELL?
Widerstand und Transformation

Politisiert euch, Dichter, so titelte zuletzt Ricardo Domeneck auf freitag.de, und Nora Bossong monierte anlässlich eines gediegenen, häppchenreichenden Festaktes im Roten Rathaus für das Haus für Poesie (vormals Literaturwerkstatt) mal wieder ein permanentes Vorbeireden an gesellschaftlichspolitischen Realitäten. Nicht nur in diesem Zusammenhang lohnt ein genauerer Blick zurück auf eine kontroverse Veranstaltung von Parlandopark zum Thema Literatur und Staat, die am 8. September mit Stefan Blankertz und Bert Papenfuß als Gästen im Bassy Club stattfand. Das Motto dieser Veranstaltungsreihe lautet Literatur unter Einfluss – Schreiben unter Druck. Gemeint sind externe Einfluß- und Störgrößen, Wetterumschwünge von Politik und gesellschaftlichem Wandel, all das disruptive Ungemach, und wie sich das auf literarische Praxis auswirkt.
Bereits im Eröffnungsstatement von Moderator Hendrik Jackson wird deutlich, worum es eigentlich geht: Anarchismus als exemplarische Widerstandsstrategie, als Gegenmodell zur herrschenden Doktrin und wie das überhaupt gehen soll, ob er sich  von seinen Prämissen und Grundannahmen her noch als Role Model eignet, um im 21. Jahrhundert konkrete Veränderungs- und Transformationsprozesse zu inspirieren und zu initiieren.

Privateigentum vs. alles gehört allen

Schnell werden die Gegensätze der Positionen klar. Blankertz als Vertreter einer anarchokapitalistischen Variante, die den Staat als Wurzel allen Übels betrachtet, fordert mehr Vielfalt, mehr Selbstorganisation, mehr Privateigentum. Papenfuß widerspricht heftig, macht aus seiner Verachtung keinen Hehl. Alter, was willst du jetzt mit deinem Privateigentum, so eine seiner Repliken. Privateigentum sei Ausbeutung und Unterdrückung. Kapitalismus und Anarchismus unvereinbar. Auch Papenfuß will den Staat weg haben, aber heute werde die Gesellschaft durch größere Zusammenhänge dirigiert. Für Blankertz, der seine theoretischen Überlegungen in einem libertären Manifest zusammengeführt hat, impliziert jeglicher staatlicher Eingriff, also sämtliche Hoheitsakte von Legislative, Exekutive und Judikative die Erzeugung von Gewalt, Zwang und Enteignung und schafft naturgemäß nur Opfer. Die Legitimationsbasis von demokratischer Staatsgewalt wird kategorisch abgestritten. Jackson will die Stichhaltigkeit dieser Thesen am Beispiel Gentrifizierung und Zweckentfremdungsverbot von Wohnraum durchspielen.

Staatlicher Wildwuchs und hungrige Interessenhaufen

Blankertz argumentiert mit staatlichem Wildwuchs, der nur die Kleinen träfe. Es komme nie das heraus, was intendiert wird. Verbote erzeugen Gewalt und schaffen Opfer. Überzeugend ist das nicht. Dass solche Rechtsvorschriften ähnlich wie Mietpreisbremsen oder gesetzliche Mindestlöhne eine stabilisierende Schutzfunktion implizieren, um Fehlentwicklungen oder Profitmaximierungsinteressen auszubremsen, wird komplett ausgeblendet. Man wird den Verdacht nicht los, dass die kompromisslose Preisgabe von staatlichen Institutionen und Infrastrukturen der Daseinsvorsorge an Partikularinteressen „hungriger Interessenhaufen“ einer rein ideologischen Setzung geschuldet ist. Papenfuß spricht von einer extremen FDP. Tatsächlich scheint Blankertz Ansatz in einem manichäischen Weltbild zu verharren: der Mensch von Natur aus gut, der Staat als Erzieher zum Bösen, als Okkupationsmonster, als Produzent von Gewalt und gängelnder Bevormunder in einer etatistischen Konformitätsgesellschaft - eine klassische Umkehrung der Hobbes´schen Weltsicht. Die ökonomischen Analysen und Schlußfolgerungen lesen sich wie von Milton Friedman verfasst, ein ähnlicher Mix aus Privatisierung, Deregulierung und small government.

Schafft den Staat ab, privatisiert euer Überleben

Blankertz behauptet, die Erzwingung von Sozialbeiträgen führe zu einer Abnahme von Produktivität, krasse Einkommensunterschiede sind Folgen nicht vom Markt, sondern von staatlichen Eingriffen, usw. Blankertz geht noch einen Schritt weiter: statt einem neoliberalen Minimalstaat, will er die Gesellschaft ganz vom Staat befreien. In einem von ihm konstruierten Übergangsstadium solle man die freie Wahl haben, ob man sich von staatlicher Polizei oder einem privaten Sicherheitsdienst beschützen lassen wolle, private Schiedsgerichte sollen gleichberechtigt neben staatlichen Gerichten zugelassen sein - TTIP läßt grüßen. Paradox ist diese Staatsidiosynkrasie auch deshalb, weil global gesehen der Privatisierungsgrad der Welt nie so hoch war wie heute. Ein Weltbild das die realen Auswirkungen neoliberaler Auswüchse konsequent ignoriert, angefangen von den berüchtigten Strukturanpassungsprogrammen, mit denen IWF und Weltbank in den 80ern die Dritte Welt heimgesucht haben, über die Schocktherapien, mit denen der kollabierende Ostblock und insbesondere Russland in den 90ern in einen oligarchischen Kasino-Kapitalismus und an den Rand des Abgrunds geführt wurde, bis hin zur globalen Finanzkrise der Nuller Jahre. Was auch Blankertz übersieht: Individuen sind nicht too big to fail, sie können ungeschützt fallen, ausgeplündert und ihrer Existenzgrundlage beraubt werden. Der demokratische Staat, so er sich dem Allgemeinwohl verpflichtet sieht, ist dann eben nicht nur auf ein Repressionsmonster zu reduzieren. Idealerweise organisiert und strukturiert er Gemeinwesen. Gewiss unterliegt er einem Trägheitsmoment, aber er begleitet, gewollt oder nicht, auch gesellschaftlichen Wandel, hinkt ihm hinterher, sucht ihn zu verhindern, lähmt ihn mit bürokratischen Schikanen, um sich dann doch halbherzig auf Wandlungsprozesse einzulassen, so dass an seinen Rändern Möglichkeitsräume entstehen -  invasiv-minimal, so nennt es Blankertz ja selbst, und liegt damit keineswegs falsch.

Die Lücke im System - Möglichkeitsräume

Und hier tut sich eine eklatante Lücke auf. Selbstorganisierte Aneignung von Möglichkeitsräumen kann eigentlich nur innerhalb eines verlässlichen Rechtsrahmens erfolgen. Wird dieser eliminiert oder stark reduziert, führt dies zwangsläufig auch zur Eliminierung von eben diesen Möglichkeitsräumen und befördert in forcierter Weise das Aufkommen von Willkür und Asymmetrien, die sich in Ungleichheit, Ausgrenzung und Gewalt entladen und Gesellschaften polarisieren und letztendlich barbarisieren. So kann man denn auch neoliberaler Indoktrination auf dem Leim gehen. Noch evidenter wird dieser Zusammenhang bei den Ausführungen von Papenfuß. Wenn man bei ihm überhaupt von einer Theorie sprechen kann, dann sieht sie wie folgt aus: Es gibt einen Staat, der übt Gewalt aus, es gibt Privateigentum, das übt Gewalt aus und es gibt einen militärisch-industriellen Komplex, der übt ebenfalls Gewalt. Alles zusammen gehört folglich abgeschafft. Und dann - schauen wir mal. Oder in seinen eigenen Worten: Wenn man die Repressionsorgane des Staates abschafft, dann sind doch die Probleme nicht aus der Welt. Gefängnisse werden geöffnet. Die ganzen Idioten kommen raus. Was macht man mit denen. Du kannst ja nichts verbieten. Du kannst den Leuten ja nicht vorschreiben, wie sie zu leben haben. Verbieten ist verboten.

Herrschaftsfrei = gewaltfrei?

An dieser Stelle insistiert Jackson. Das Ziel sei doch neben einer herrschaftsfreien eine gewaltfreie Gesellschaft. Wer sagt das, erwidert Papenfuß. Es folgen flapsige, unreflektierte Bemerkungen, Selbstjustiz- und Blutrache-Witzeleien vom Kaliber: Blutrache ist ein gutes Konzept - er meint offensichtlich den Umgang mit frei herumlaufenden Straftätern. Spätestens an dieser Stelle muss man seinen Ausführungen die Ernsthaftigkeit absprechen - wirken sie nur noch rein performativ. Räuberpistolen auf Bakunin-Niveau, eine fragwürdige Positionierung zur Gewaltfrage, die der herbeiphantasierten Utopie eines failed states mit nomadisierendem Warlordismus das Wort redet, schöpferischer Zerstörung mit eingebauter Gewaltspirale. Als er auf Politiker zu sprechen kommt, redet er sich final in Rage. Und die Politiker, die diesen Staat darstellen, nehmen wir mal Angela Merkel... irgendwelche Politiker, irgendwelche Schmarotzer - was verdienen die, was verdient so ein Abschaum wie Merkel. Wie graduell ist da noch der Unterschied zu menschenverachtendem Pegida-Sprech, zu AFD-Funktionären, die Flüchtlinge ihrerseits als menschlichen Abschaum bezeichnen. Was ist das Mitteilenswerte solch inflationären Gebrauchs von Abschaum-Zuschreibungen, solch verbalradikalisierter, stumpfsinniger Hass-Diskurse. Man kann Papenfuß für seine Lyrik bewundern und Respekt zollen, für seine poetischen Verfahren, seine Veranstaltungsreihen, seine Widerständigkeit und Angriffslust. Davon ausklammern muss man aber diese ungute Mixtur aus Mottenkiste, Klamauk und Ressentiment. Es sind Umwälzungsphantasien auf verlorenem Posten, nichts worauf man eine Gesellschaft als Ganzes aufbauen kann. Gegen Ende wird aus dem Publikum eine einfache Frage gestellt: Wenn es keine Herrschaftsform gibt, wer schützt dann die Schwächeren, warum herrscht dann nicht der Stärkere. Keine Ahnung, weiß ich auch nicht, erwidert Papenfuß.

Ein Lernprozess – ein Gerechtigkeitsgefühl - Postanarchismus

Revolution, sagt Blankertz. Muss ja irgendwie gemacht werden, ergänzt Papenfuß höhnisch. Blankertz: Natürlich setzt das eine große Umwälzung voraus. Wenn man sich klar macht, wie stark der Staat in unser privates Leben einragt. Überall staatliche Regulierungen. Wir sind sozialisiert unter staatlichen Bedingungen. Und wir wollen zu größerer Selbstbestimmung. Wieder zu lernen, die Dinge selbst zu regeln, im direkten Kontakt, Austauschprozesse jenseits des Staates. Das ist ein Lernprozess. Der sich auch in gewaltsamen Konflikten Bahn brechen kann. Hier kann man Blankertz nicht widersprechen und muss ihm die Redlichkeit seiner Intentionen zugestehen. Aber dies mit Staatsdämonisierung monokausal zu verknüpfen, ist das nicht zu einfach. Wir verausgaben uns in Bagatellverfahren, bei jedem fünften Verfahren an deutschen Amtsgerichten liegt der Streitwert unter 300 Euro. Wir selbst sind es doch, die mit unserer Umwelt nicht klarkommen, die wir uns gegenseitig schikanieren, uns fertig- und kaputtmachen, wir Dauerfrustrierten. Wer zwingt uns das auf? Und wie ist das jetzt mit dem Anarchismus. Ein Gerechtigkeitsgefühl, so Papenfuß, vielleicht was Archaisches, naiv, kindlich, im Sinne von unschuldig. Und auch Unverantwortlichkeit sei anarchistisch. Wenn es so einfach wäre. Natürlich hätte man sich von Blankertz und Papenfuß ein profunderes, geschliffeneres Bild von Anarchismus gewünscht, weniger simplifizierend, eingebunden in ein zeitgemässeres Welt- und Menschenbild. Wo vielleicht als erstes ganz banal differenziert wird zwischen Macht und Herrschaft, Macht nicht grundsätzlich als repressiv abgewertet, sondern als soziale und kommunikative Alltagspraxis verstanden wird, als ein Wechselspiel von widerstreitenden Interessen und Bedürfnissen, die es auszubalancieren gilt - und mit viel Grauzone dazwischen.
Andererseits gibt es aber auch einen variantenreichen Postanarchismus, der sich um Differenzierung müht und umtriebig im Theoriegestrüpp von Foucault, Deleuze, Derrida oder Butler wildert. Lewis Call beispielsweise versteht Anarchie als keinen Endzustand, sondern postuliert eine Anarchie des Werdens, die unter anderem auf Tausend Plateaus zurückgreift. Der Anarchismus von Blankertz und Papenfuß hingegen scheint merkwürdig aus der Zeit gefallen, sowohl in seinen Grundannahmen als auch in seinem Verständnis von heutigen gesellschaftspolitischen Zusammenhängen.

Selbstoptimierungsimperative, die Herrschaft der Superreichen und dazwischen Multitude

Auch wie schwer fassbar wir heute als Einzelwesen sind, wie überkomplex als Kompetenzmaschinen, überfordert als hyperaktive Marktsubjekte, kaum noch subsumierbar unter größere Zusammenhänge, einer sozialen Funktionsweise. Wie schwer wir uns letztendlich tun, mit all unseren pluralen Identitäten und Metastasen bildenden Aliasen, mit unser Chamäleonhaftigkeit, mit all unseren Wünschen, Frustrationen, Defiziten, Viren, im permanenten Klammergriff von Selbstoptimierungsimperativen und Grenznutzenkalkülen, eingebettet in einer zunehmenden Unbestimmtheit und Fiktionalisierung des Sozialen.
Jedenfalls kein Wort über konkrete Ausstiegsmodelle, über die zahllosen Widerstands- und Protestbewegungen, die es trotz alledem gibt, die sich zunehmend professionalisieren, global vernetzen, jene Multitude, die Negri/Hardt (vielleicht etwas zu) überschwenglich als neue revolutionäre Masse zelebrieren, als Gegenmacht, die ein Recht auf Weltbürgerschaft, auf sozialen Lohn und Wiederaneignung nicht nur von Produktionsmitteln sondern auch von Wissen, Information und Kommunikationskanäle geltend macht, eine lokal und zugleich global vernetzte Parallelwirtschaft sozialer Verbundenheit, eine solidarisch-selbstorganisierte Ökonomie, die sich gegen die Zwänge kapitalistischer Märkte auflehnt, offene Interessensgemeinschaften, commonsbasierte Peer-Communities, kurz, eine hybride Wirtschaft des Übergangs, zugangstolerant und mit hoher Unschärfe. Kein Wort über die reale Herrschaft globaler Eliten, plutokratische Strukturen oder darüber, dass allein 147 transnationale Konzerne über 40 % der Weltwirtschaft kontrollieren, eine zentrumslose Biomacht, die im Sinne eines Outscoucing-Prozesses einen rapide wachsenden Überschuss an Überflüssigen, Nutzlosen produziert und nicht nur zu mehr sozialer Ungleichheit führt, sondern zu Ausgrenzung, Entrechtung und Stigmatisierung, eingetreten in eine neue Phase des Überlebenskampfes, wie Saskia Sassen behauptet, aufgezwungen von räuberischen Formationen. Es ist ein fundamentaler systemischer Umbruch. Die Ausweitung der Kampfzone ist bereits weit vorgeschritten, ist in unsere Körper eingedrungen, biopolitisch und zugleich existentiell lebensbedrohlich für uns als Individuen, für unseren Planeten. Gleichzeitig werden zivilisatorische und kulturelle Fortschritte eliminiert, demokratisch gewachsene Strukturen überführt in eine marktkonforme Scheindemokratie, überführt durch die Verinnerlichung von neoliberalen Mantras, die laut Wendy Brown, zunehmend totalitäre Züge annehmen und nach allen Lebensbereichen greifen, jeden Atemzug, jeden Puls- und Lidschlag zur Leistungsmessung heranziehen und unter Evaluierungszwang setzen. Einer ökonomischen Scheinrationalität unterwerfen.
Womöglich ist das aber auch zu viel verlangt für eine 90minütige Veranstaltung und zwei Gästen, die mehr aneinander vorbei, als miteinander debattierten. Aber ein bisschen davon?

Kämpfe der Befreiung

Foucault hat drei Kämpfe der Befreiung definiert: den Kampf gegen Formen der Herrschaft, gegen Formen der Ausbeutung und gegen solche der Subjektivität. Womöglich müssen wir als allererstes wieder unsere subjektiven Innenwelten neu ausleuchten, unseren inneren Kompass neu ausrichten, unsere Begriffe neu sortieren, was uns wirklich wichtig ist, uns von Verblendungszusammenhängen befreien, uns selbst befreien. Schreiben wir darüber. Verfassen wir auch poetologische Konzepte des Widerstands. Versuchen wir die Dinge in anderer Sprache neu zu denken. Oder in den Worten von Papenfuß: die ausgeschlossene Wirklichkeit sprechbar zu machen. Ich such das meuterland als radikale, künstlerische Haltung, als ein Aufblühen in kindlicher Kompromisslosigkeit, eine harlekinadische Antriebskraft, für die man Dichter wie Bert Papenfuß dann doch nicht dankbar genug sein kann. Eine anarchistische Lebenspraxis, Unruhestiftung und Suchbewegung zugleich. Oder den Spieß einfach mal umdrehen, wie es Jackson in seinem Schlußwort formuliert. Zu selbständigen Wesen reifen. Die Dinge selbst in die Hand nehmen. In der Tat, das wäre notwendiger denn je, und ein guter Anfang, auf den sich vielleicht sogar alle Anwesenden einigen konnten.


Erec Schumacher
September 2016