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Wenn die Verbindung der Wörter untereinander verloren, das dünne,
fast unsichtbare Netz, das sie miteinander verbindet, gerissen scheint,
dann ist Gefahr im Verzug und "die große Unlesbarkeit der Welt"
bedrohlich nah. "Warum schreiben, wenn die Unlesbarkeit anhält?",
das fragte sich Anfang der achtziger Jahre die dänische Dichterin
Inger Christensen - und fing trotzig an, einige Wörter aufs Papier
zu schreiben, welche zunächst nur eine "Wildnis unzusammenhängender
Phänomene ergaben", wie sie in einem ihrer fulminanten Essays
erklärt. Das änderte sich, als mit einem Mal "die Wörter
selbst anfingen, die Entscheidungen zu treffen"; so beschreibt Christensen
den Entwicklungsprozeß hin zu ihrem großen Gedicht "Alphabet",
das nach den Regeln der Fibonacci-Reihe konzipiert ist, einer mathematischen
Reihe in der jedes Glied die Summe der beiden vorangegangenen Glieder
darstellt. Sie brauche beim Schreiben solche Modelle, um "etwas herauszubekommen,
das anderswo herstammt, nicht bloß aus der eigenen Seelentiefe",
hat sie gesagt.
"Alphabet" beginnt folglich mit nur einem Vers, einer Weltbeschwörung,
die sich dem Leser einprägt, hat er sie nur einmal gelesen: "die
aprikosenbäume gibt es, die aprikosenbäume gibt es".
Es muß 1995 gewesen sein, ich hatte soeben ein Gespräch mit
dem Weltenwanderer und Lyrikkenner Joachim Sartorius über seinen
"Atlas der neuen Poesie" geführt, da las ich, in eben jenem
"Atlas", zum ersten Mal einen Auszug aus Inger Christensens
"Alphabet". Die Sprache, das war, man spürte es, für
Christensen etwas Unbedingtes. So Schreiben, wie Bäume Blätter
treiben, das war ihr Credo.
Es sollten noch drei oder vier Jahre vergehen, bis ich die Dichterin bei
einem Fest im Park des Künstlerhauses "Schloß Wiepersdorf"
auch selbst lesen hören konnte. Die Veranstalter hatten viel zu viele
Klappstühle aufgebaut, und die kleine Gruppe von Zuhörern, nein,
die wenigen versprengt einzeln Sitzenden, wirkten ziemlich verloren. Inger
Christensen aber schien das nicht zu stören. Sie blickte kurz in
die Runde und murmelte, ganz ohne Ironie in der Stimme und mit ihrem schönen,
leicht hingenuschelten dänischen Akzent, etwas wie: "Nun gut,
dann les `ich eben für die Bäume". Auch oder gerade die
Dichtung war für sie Teil der großen "Erzählung von
der Welt", in der Ursprung und Entstehung "unauflöslich
verkettet sind".
Ein zweites Mal durfte ich Inger Christensen in Dresden anläßlich
des Poesiefestivals "Bardinale" begegnen, dem (teilweise von
den Dresdnern völlig unbemerkt!) schon einige große Dichter
ihre Aufwartung machten. Christensen las, neben anderen Teilnehmern des
Festivals, am Abend in der "Scheune" aus ihrem Sonettenkranz
"Das Schmetterlingstal". Am Tag noch, im Garten des Hotels,
in dem sie wohnte, hatte ich sie tatsächlich gefragt, ob sie denn
diese ganzen Pfauenaugen, Bläulinge, Trauermantel und Admirale, die
in ihrem Gedicht vorkämen, wirklich so gut kenne, oder ob sie ihr
Wissen darüber aus Schmetterlingsbüchern beziehe.
Die Dichterin schwieg eine Weile; und dann sagte sie, mit tonloser Stimme:
"Das ist aber eine langweilige Frage." Dann schwiegen wir beide
wieder eine Weile und ich dachte, na ja, langweilig, wie recht sie doch
hat. Aber etwas besseres, klügeres war mir in dem Moment einfach
nicht eingefallen; und ich wollte doch unbedingt, daß sie mir etwas
über das "Schmetterlingstal" erzählten würde;
über ihr Schreiben.
Genau das geschah. Zum nicht geringen Erstaunen eines namhaften Literaturkritikers,
der sie noch nie so gesprächig erlebt hatte. Was wir zu hören
bekamen, war ein langer schöner Monolog der Dichterin, eine Art private,
in bester Sommerlaune vorgetragene Poetikvorlesung für zwei Zuhörer
über die langsame Entstehung eines klassischen Sonettenkranzes; vierzehn
Sonette, ein Meistersonett.
Am Freitag ist Inger Christensen, eine große Dichterin unserer Zeit,
im Alter von 73 Jahren in Kopenhagen verstorben.
Volker Sielaff
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