Diese Tür führt ins Nichts
Gedanken zu Hendrik Jacksons Panikraum

1. Diese Tür führt ins Leere

Dieser Gedichtband Panikraum trägt, dringt Schritt für Schritt, mit jeder Verszeile, mit jedem Titel, mit jedem Kapitel weiter in eine Einsamkeit vor, welcher eine unmissverständliche Sicherheit um die eigene Ersetzlich- und Sterblichkeit zugrunde liegt. Jene Einsamkeit wird erkundet und bildet zugleich das erschütterte Fundament philosophisch-poetischer Auseinandersetzung, die sich den das genuin Menschliche grundierenden Begriffen, wie Vergänglichkeit, Unendlichkeit und dem alles einschließenden Nichts, auf konfrontativ-radikale Weise stellt. Sie tut dies hochpräzise, in sprachlichen und gedanklichen Windungen, philosophisch, analytisch und vor allem auch poetisch, meisterlich in den Schichtungen von Bildern, die an die schmerzhaftesten, sonst anästhetisierten Volumina unserer Existenz rühren. Sie entreißt sie ihrer Verborgenheit, entbirgt Wunden, lässt Sinnlichkeitsblasen platzen, um letztlich selbst ungeschützt vor einem entlarvten Selbst zu stehen. Ist dies noch etwas? Was soll es sein? Wovor denn Panik? Was ist dieser Panikraum?

Was ich vorfinde, reicht bis an den Ursprung philosophischen Denkens, an die Frage nach dem Nichts zurück. Dieses Nichts scheint all diesen Versen zugrunde zu liegen. All diesem figurenhaft fulminant Schönen und Schrecklichen, all diesem Seienden steht in klarer Dialektik, wie ein nickendes Bild auf einer Wasseroberfläche, das tiefe Nicht-Sein gegenüber. Auf einer dritten Ebene findet sich noch ein als solches erscheinendes Sein, und wird stets mitgeschliffen, da und dort aufgerichtet, aufgeputzt. Eine ständige Dialektik, eine ständige Doppelbödigkeit, ein ständiges Aufrichten, um es fallenzulassen, ein Behaupten, um es zu widerlegen, ein Begründen, um jeden Grund zu entziehen. Ist nicht jedes Argument des Logos Sinnbild der Verzweiflung? Es ist die Einmaligkeit dieser Dichtung, ständig zu sagen, ohne auszusagen, selbst im Aussagen zu fragen. Was ist dies Nichts, eigentlich?

2. Blick des eintauchenden Fremden

Zuerst jedoch entführt der Text mich an (mir noch) unentdeckte Orte, führt sie im ersten Teil des (in drei Teile gegliederten) Bands, literarisch-poetisch durch sieben Provinzstädte Russlands. Nowosibirsk, Uljanowsk, Tscheljabinsk, Wolgograd, Astrachan, Archangelsk und Kaliningrad werden lyrisch bereist und durch den Gedichten beigefügte Anmerkungen ausführlich begleitet. Teils wenig bekannte Städte und Stadtteile ziehen vor meinem geistigen Auge vorüber, aber bei weitem nicht nur das, es ist, als hauchten die Texte diesen teils sehr unbekannten Orten Seelen ein, so dass sie eigene Charaktere erlangen, die lebendig und bildhaft vor mir erstehen. Hier fiel mir Mandelstams Reise nach Armenien ein. Wie sehr darf ich als Leserin auch hier eintauchen, in mir so fremde Orte und lesend hören, spüren, wie sie aussehen, was in ihnen passiert, was trauert, was versteckt sich, was ist sichtbar. Eine unglaubliche Gabe! Niemals entsteht der Eindruck, man lese einen Reiseführer, nein, blinden Auges reise ich selbst, ertaste Straßen, Waren, Häuser in außergewöhnlichsten Tropen. Man bedenke, wie viele Texte allein über Paris geschrieben wurden, sie sind vielleicht unzählbar. Ich denke an Balzac oder Baudelaire, und, um in östlichere Gebiete vorzudringen, Isaac Babel, der in wilden Geschichten dem Leben in Odessa ein Narrativ einhauchte. Doch hier sind es Städte, die dem Dichter fremd sind, an deren Schwelle er sieht, was sie ihm zu spüren geben. Die Verse in den Texten selbst werden mit einem Mal zu Gassen, durch die es lesend zu spazieren lohnt, bald formieren sich vielschichtige Panoramen, aus Stahlbällen, vergangenen und gegenwärtigen Dichtern, ehemaligen Fürsten, Triptycha, Warenkriegen oder plüschigen Schneehauben tief schlafender Veranden.

3. Verführung zum Tode

Der zweite Teil führt mich in einen weiteren Ort der Unvorstellbarkeit. In aggressiv-präziser und zugleich artistischer Sprache werde ich in ein Drama der Leidenschaft getaucht, durchdrungen von purer Grausamkeit. Es kulminiert in einer durch einen Schnitt entstellten, klaffenden, affigen Vulva. Da sind harte Bilder von Lust und Begehren, Verlangen und Befehl. Es bäumt sich eine männliche Mächtigkeit vor mir auf, von der schwer zu erahnen ist, an welcher Stelle sie erläge. Die Sinnlosigkeit dieser Aggressionen und Taten treten aus sich kunstvoll überlagernden Bildern hervor: Abgründe, die kritisch zur Schau gestellt werden. Hoffnungslosigkeit, Zerstörung und Trauer springen hier fratzenhaft aus jedem Wort direkt in mein Denken. Das Nachwort verspricht keinen Trost, ich (hier verletzt) überspringe es. Diese Gedichte, in der Mitte des Bandes, sind als verzweifeltes Plädoyer zu lesen, als eines für Zärtlichkeit. Eine Zärtlichkeit, die, wenn sie tatsächlich existiert, in der Lage ist, jede noch so tiefe Leere auszufüllen. Diese Tür führt ins Licht!

Ein guter Übergang zur grafischen Gestaltung des Buches, die von Andreas Töpfer stammt. Was ist da auf dem Titelblatt abgebildet? Ein Schatten, ein Umriss von etwas. Ist es eine Matrjoschka Puppe? Die unendliche Wiedergeburt des ewig selben? Inbegriff unserer Austauschbarkeit? Chtonisches Bildnis eines ewig gebärenden, ewig hervorbringenden weiblichen Körpers? Massenproduktion? Fetisch Ware? Ist es eine Eule? Ist es ein Phallus?

4. Denken Sie niemals daran, nicht mehr zu sein (Jackson als gute Fee)

Im dritten, titelgebenden Teil fühle ich mich als Leserin nach der Reise in fremde, russische Städte und in eine fremde, kranke Seele, auf mich selbst und meine eigenen, verdrängten Ängste zurückgeworfen. Ich muss in den Worten des Dichters nun in mich, und noch viel weiter, nämlich dorthin, wo ich wiederum noch nie war, dorthin, wo es mich selbst nicht mehr gibt. Dorthin, wo ich immer kleiner und kleiner werde, bis ich gar nicht mehr da bin. Dorthin, wo ein Ende ist, von dem ich nicht in der Lage bin, es mir vorzustellen. Hendrik Jackson – ein Dichter – oder wer spricht hier eigentlich? Eine Frage, die er selbst im Text zu bedenken gibt. Ist da noch ein sprechendes Ich oder handelt es sich um ein bereits im Verschwinden begriffenes? Er stellt sich das Verschwinden seines oder eines beliebigen Ichs vor und nicht nur das, er führt es aus, scheint über seine Kräfte hinausgehen zu wollen, scheint seine eigenen Grenzen zu sprengen. Der Dichter setzt sich seinen Ängsten, seiner Panik aus, jener Panik, die einen Menschen befällt, wenn er seinem Nicht-mehr-sein entgegenblickt. Wenn er erkennt, wie viel des Seins nur Schein ist, der gerade noch ein wenig leuchtet, doch schon bald erlöschen und vergessen sein wird.

und es war ja wirklich so, ich sagte mir: dann bist du weg, und das, was du siehst, ist weg und es ist jetzt weg und morgen weg und dann immer noch am Morgen nach dem Morgen weg. und der, den du siehst ist weg, aber der auch und alle plus 1. immer noch einer mehr als möglich und ein Tag mehr weg als möglich und immer so weiter und noch einen Tag mehr. kegelst du immer alles weg, bleibt doch ein levitierender Kegel schweben und reimt sich schlecht auf Unendliches! beschwöre ihn!
nenn ihn beim Namen! oder erfinde einen magischen: zum Beispiel Ilja. den gibts ja wirklich! sogar immer wieder, ein Steh-auf Männchen. aber niemals wird er vollkommen, wie im Kreis aufgehoben

Wer ist denn nun dieser Ilja? Der versierte Philosoph wird hier durch viele Anspielungen fündig und glücklich werden, denn der Text geht in seinen Gedanken auf jene seiner Vordenker ein, in seiner Hartnäckigkeit aber immer noch einen Schritt weiter: auf direktem Weg in den Brachialschmerz, der die eigene Bedeutungslosigkeit erfährt, das ist durchzumachen, in den lebendigen Worten des Autors, denn die Worte, sie leben noch, sie haben Fühler, wie es an einer Stelle so geheimnisvoll heißt. Was soll das denn bedeuten? Was ist damit gemeint?

Dazwischen dann doch: Dankbarkeit, zarte Trostpole, weiche, fast märchenhafte Verse, oder aber, das Schmerzhafte wird dann und wann durch einen überraschenden Witz gebrochen und somit gelöst, just nachdem ich mir bewusst werden durfte, unter Umständen nur einen kleinen Moment hier auf Erden gewesen zu sein, einen so kurzen Augenblick, nur für diesen einen Schein. Was ist das Irdische? Ist es nicht doch nur ein märchenhaftes Ding?

Sagen: sei mir, ewige Nacht, Drachenschach und stricke Dickicht voll Farn und Feenmoos, voll Sockenblumen, Staffelschwänzen, Glocken und Einhörnern, in dem die Zephirlilien stehen im Wind, die Arielschwalbe fliegt und der Zwergpinguin watschelt

Nun aber, eine Frage an mich selbst: Wie geht es mir, wenn ich all das lese? Ist denn nirgendwo ein Halt? Im Nichts hält nichts, dort gibt es keine Hoffnung. Aber, frage ich mich, kann sich denn etwas überhaupt um ein Nichts handeln, welches ja, wie sein Begriff besagt, gar nichts ist? Und wenn es nun gar nicht von einem Nichts handeln kann, worum geht es dann? Wonach lechzen diese Texte? Was zeigen diese Strukturen, Skulpturen, Formationen auf? Verführung, Perversion, Symbiosefantasmen, Innigkeit als Kitsch? Diese Szenarien sind, wenn auch auf radikalste Weise, imaginierte Szenarien, sie sind nicht real. Diese Fantasmen wollten vielleicht auf Papier (nur auf Papier!, rufe ich mir zu) materialisiert werden, um Triebe zu degradieren, Verlorenes nie mehr als wertvoll und Gut wiedererinnern zu müssen, Gewalt und Wut zur Schau zu stellen, möge einer sich ergötzen. Das Spiel eines ewigen Austauschs des Todes mit dem Anderen in ein Spiel des ewig Gleichen umzuwandeln ist ein Widersinn (Baudrillard). Das macht der Text auch nicht. (Die Worte üben sich nur in den Tod ein!, rufe ich mir nochmals zu) Ich versuche meinen Namen zu tauschen, versuche zu spüren, ob und für wen meine Existenz wichtig sein könnte. Gibt es überhaupt Verbindung?

Da ist kein Halt. Innigkeit, la Fantasia.

ich werde durch ein Flimmern vor dem Fenster geweckt. heiße Wellen gehen durch mich hindurch. irgendetwas ist nicht in Ordnung. draußen ist etwas Furchtbares passiert, das alles ändern wird. vielleicht hat ein Idiot einen nicht kontrollierbaren Atomkrieg entfesselt, ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass es unumkehrbar ist und alles verändern wird, als löse sich die Welt selber auf, als verzerrten sich die Koordinaten und Regeln des Kosmos. nichts ist so wie vorher. ich denke noch, wie schrecklich muss es für V. sein, dass sie nicht bei ihren Kindern ist, sie steht nun neben mir, vielleicht ist es gut, dass ich da bin, aber sie ist selbst so vollkommen von diesem Schrecken erfüllt, dass ich sie kaum wiedererkenne. in diesem Schrecken ist sie wie eine andere Person, dennoch sind wir einander der letzte Halt. (...)

Panikraum ist ein kraftvolles, männliches Werk wirkmächtigen Sprachraums, durchdrungen von dem Mut, über das Äußerste hinaus zu denken. Diese Sprache entspringt der radikalen Kraft, einer übermächtigen Lust zu leben und zeigt sich umgekehrt genau in diesem Wollen in großer Verletzlichkeit. Panikraum ist ein Text, der aus dem Zulassen und der Erfahrung von Einsamkeit entsprungen ist, denn obwohl das Leben sich so schmerzhaft in all seinen Verläufen zeigt, sind die Gedanken daran, dass es einmal nicht mehr sei, dem Dichter oder: Hendrik Jackson unerträglich. Seine Sprache nähert sich den menschlichen Urängsten an und bleibt dabei fern von Eitelkeit, fern von Gefallen-wollen, fern von Überflüssigem, sondern steht völlig allein im Jetzt, erbarmungslos und ehrlich

Verena Stauffer


Jackson, Hendrik, Panikraum. kookbooks 2018. Berlin.