Tendenzen zeitgenössischer deutschsprachiger Lyrik
Privates und Pittoreskes – Eine Polemik
Lyrik wird vor allem eines: Affizieren. Wird man von Lyrik nicht angesteckt,
breitet sie sich nicht virusartig im Gehirn aus, bleibt nur: Sie weglegen. Aber
affiziert Lyrik in besonderer Weise? Dient sie nicht nur skurrriler Beschäftigung
in müßiggängerischen Stunden? Nährt sie sich von Leidenschaft
oder Beobachtung? Zielt sie auf dunkle Beschwörung abgründiger Zustände
oder chirurgisch anmutende Zerlegung sonst kaum wahrnehmbarer Prozesse? Kann
Lyrik Momenthaftes erstellen und Notizen, Alltagsmüll, Diarisches mit in
das Gedicht nehmen? Ist Lyrik seismographische Aufzeichnung oder pathosgetränkter
Gesang?
Poesie ist präzise und vage zugleich. Präzision der Beobachtung drängt
den weitschweifigen Kontext von subjektiven Projektionen beiseite, während
ungewohnte Metaphern oder Montagen neue (Sicht-)Felder eröffnen. Das eine
scheint ohne das andere poetisch nicht denkbar, denn je penibler ein Eindruck
von etwas beschrieben würde, desto mehr verflüchtigte er sich. Der
Umkehrschluß allerdings, große unscharfe Worte schafften große
Gefühlsfelder ist auch falsch. Dichtung schwebt, genau gewichtet, im Spannungsfeld
aus Präzision und Öffnungen ins Weite.
Lyrik übersetzt dabei aus einer gewissen Haltung, einer Beobachtungs-,
Empfindungs- oder Gedankenwelt ins Wort, löst Verkettungen, Übertritte,
Affekte aus. Die Begegnung mit der Welt liegt ihr zugrunde, aber sie tritt aus
dem Schatten des Wirklichen.
Wenn das Photo die Netzhaut der Wissenschaft ist, so kann die poetische Sprache
die der Stimmungen, Atmosphären, aber auch die der Ablagerungen soziologischer
oder privater, geschichtlicher oder traumatischer Segmente in der Sprache sein.
Darüber hinaus schafft es das Gedicht nicht nur geistige und gesellschaftliche
Phänomene zu komprimieren, schafft es nicht nur, unsere Welt und unser
Verhältnis zur Sprache radikal zu durchkreuzen, sondern kann immer auch
emotionsgebunden und stimmungsvoll sein. Weil in Stimmungen und bestimmten Atmosphären
sich die Pausen der Wahrnehmung, die freien, ans Unscharfe grenzenden Träume
entfalten, die dem alltäglichem Reiz-Reaktions-Schema und den gesellschaftlichen
Verblendungs- und Verblödungszusammenhängen zu entkommen gedenken,
liegt in poetischer Versonnenheit ein Pfand des Glücks.
Wie sich Poesie eine eigene Welt schafft — darüber läßt
sich vor allem streiten. Wir schaffen uns Gegner und Gegensätze, um den
Glauben an uns selbst nicht zu verlieren. In Polemiken, Streitschriften, die
nicht der Kritik schlechter Texte, sondern der Auseinandersetzung mit klugen
Zeitgenossen dient, positioniert sich der Autor. Dabei fällt es aber schwer,
in den der Lyrik ohnehin nicht günstigen Zeiten eine Kritik an Autoren
zu publizieren, die ja doch bei allen Einwänden interessant erscheinen.
Mir gilt es, mit dieser Polemik nicht vornehmlich zu polarisieren, sondern eher
zwischen den (für falsch gehaltenen, aber nachgezeichneten) Polarisierungstendenzen
neuerer Lyrik Schlupflöcher für Nuancen und für eine junge, andere
Dichtung zu schaffen (die es ansatzweise gibt, die hier aber, um sie nicht zu
"kompromittieren", ungenannt bleibt).
Ob nun in den letzten Jahrzehnten das Gedichtschreiben in Deutschland überhaupt
unter Verdacht stand, ob entweder eine hermetische Dichtung oder das politische,
das lebensnahe oder das bildunsgreiche Gedicht gefordert wurde, auf jeden Fall
trugen viele Gedichte an einer gewissen Bürde. Allmählich aber konnte
man sich sowohl aus allzu engen Ansprüchen wie auch auch von erdrückenden
philosophischen Prämissen lösen. Aber nicht allen behagt dies. Ohne
nun einen echten Abriß der deutschsprachigen Lyrik der letzten Jahrzehnte
geben zu wollen, läßt sich doch auf den ersten Blick bemerken, daß
sich eine Polarisierung in unbefangene Alltagslyrik hier und formringende Postavantgarde
da seit langem in unterschiedlichen Weisen fortsetzt. Immer noch trennt der
Glaube oder Unglaube an die Erzählbarkeit oder die Erzählung die Dichter
und selbst unter gewiefteren Dichtern treten diese Gegensätze periodisch
auf.
Die Vorwürfe an die verschiedenen „Richtungen“ ähneln
sich dabei immer wieder und lassen sich recht gut, trotz aller raffiniert vorgetragenen
Argumente, zusammenfassen: Unbedarfte Seichtigkeit wird den Erzählern,
theoretische Kopfgeburten den sogenannten Formalisten vorgeworfen.
Aber während einerseits das Verhältnis zur Wirklichkeit und zur Sprache
nicht so ungebrochen sein kann und sollte, wie es uns einige weismachen möchten,
so ist es nicht unbedingt das narrative oder abbildende Element, das automatisch
in die Verwerfung führt. Auch dort, wo erzählt wird, weist die Dichtung
unter Umständen über einen simplen Gestus weit hinaus und entwickelt
manchmal sogar auf radikalere Art neue Formen.
Wenn man die umfangreiche dokumentarische Anthologie „Lyrik von Jetzt“
aufschlägt, die zumindest eine erste, wenn auch etwas zu propere Übersicht
über die neue Lyrik gibt, erkennt man allerdings recht schnell nicht nur
eine Tendenz zum Erzählerischen, sondern auch zum Leichtgewichtigen, von
einigen Ausnahmen abgesehen (wobei die Auswahl der Gedichte nicht immer repräsentativ
für ihre Urheber ist). Bei aller Verschiedenheit der Stile läßt
sich auch bei vielen Besseren eine Tendenz zum bilderverliebten und dabei harmlosen
Schreiben erkennen. Man löst sich von zu starken "fremden" Ansprüchen,
seien sie geschichtlich, akademisch, avantgardistisch etc., geht einen unspektakuläreren
Weg, um poetischen Wendungen Atem zu geben, die einmal, selbst wo sie große
Themen behandeln oder vielschichtig gebaut sind, die einfache Präsenz eines
unbefrachteten Moments, auch eines kleinen Glücks nicht scheuen. Sinnliche
Eindrücke, Oberflächen, poetisierte Inventars und Erzählungen
werden (wieder?) möglich. Gleichwohl klingen die alten Diskurse, das Wissen
um die politischen, sozialen Hintergründe etc. in dieser neuen Dichtung
manchmal an. Allein drängt man sie in den Hintergrund, um nicht allzu schnell
das Bild oder die Bildkomposition durch zuviel Anspielungen, Bildung oder Erklärungen
und philosophische Vermittlung zu beschweren oder zu ersticken.
Das manchmal fast pittoresk Anmutende ist bei diesen Lyrikern nicht ohne Rafinesse
und Qualitäten. Die Dichter sind bemüht, verblüffende Bilder
zu finden und ihnen Ruhe zu gewähren. Das Gehege einer Privatheit wird
ausgebreitet, die sich nicht in zu große Komplexität verstricken
will, so beziehungsreich die Querverbindungen innerhalb des Gedichts auch sind.
Dabei rückt das Anrührende, Persönliche der Dichtung wieder stärker
in den Vordergrund.
Immer wieder wagen sich manche der Dichter auch ins Gesellschaftlich-Historische.
Doch gibt es dann meist keinen Konflikt von Privatem und Gesellschaftlichem
etc. oder auch nur eine Reflexion der Bedingungen, eher wird das Historische
in der Miniatur wiederbelebt und soll dem kleinen Ausschnitt Glanz verleihen.
Vor allem die Gedichte aus Raphael Urweiders erstem Gedichtband, vielleicht
der erfolgreichste Lyrikband unter den Publikationen der letzten Jahre, folgen
dieser Strategie:
galilei
herr galilei ist der grosse erfinder von
sonne mond und sternen einer vogelvoliere
entspringen die gelernten gedanken der
papageie herr galilei blickt durch sein
erdichtetes fernrohr er beobachtet nachtvögel
schläft tagsüber ihm kommen sternfarbene
papageie in die träume herr galilei putzt
die linsen des teleskops mit hirschleder
auch abends wiederholen sich die parolen
der papageie er hört sie nicht und richtet
seine gedanken nach den sternen was braucht
er da papageie herr galilei reinigt seinen
blick mit hirschleder erfindet sonne mond
und deren gefolgschaft träumt wie in
gedanken von nachtvögeln er wünscht
sich tagsüber ein sternfarbenes federkleid
Schon mit den Wörtern Sonne Mond und Sterne will Mister Urweider den
Leser durch Reminiszenzen an Kinderlieder milde schaukeln, einlullen für
nachfolgende Harmlosigkeiten und bunte Federkleidchen. Typische Kennzeichen
stehen für Galiläi (Teleskop), der Rest ist schmucker (Hirschleder)
Alltag (putzen), der durch „Phantasie“ (erfindet Sonne Mond, Papageie),
die sich banalerweise mit den Sternen verbindet, ungewöhnlichen Schick
verleihen soll und die Botschaft vermittelt: Das Leben besitzt Charme. Zudem
geben die Papageien Parolen aus, Galilei reinigt natürlich nicht das Teleskop,
sondern seinen Blick. Lauter kleine poetische Spielchen. Ob es sich nun um Madame
Curie, Galilei oder Gutenberg handelt, der Verdacht eines Etikettenschwindels
drängt sich bei den Gedichten Urweiders auf. Alles was das spezifisch Geschichtliche
der Figuren ausmacht, wird bis auf Wiedererkennungsattribute ausgeklammert,
eine Auseinandersetzung findet nicht statt, sondern: „Poetische Hintertreppe“.
Was der Autor sich so hinzuträumt zu der Figur eines Galilei wird diesem
untergeschoben und das Geschichtsbild solchermaßen bunt verputzt. Diese
Art neuer Harmlosigkeit, diese Betonung des „alltäglichen“
und zugleich „phantasievollen“ Menschen — kann sie einen neuen,
„poetischen“ Blick auf etwas Bekanntes werfen? Jeglichen Inhaltes
beraubt, bekommen wir doch nur Versatzstücke einer Profession und das Abziehwerbebild
einer geschichtlichen Figur zu sehen. Der Dichter benebelt uns mit Galaxien,
dem Geschmack der Sterne: Lyrische milky ways. Urweiders frühe Fingerübungen
erzeugen, trotz aller subkutanen Aggressivität in einigen anderen Gedichten,
nicht mehr als folklorebunte schmucke Kleinodien.
Nicht zufällig hat auch eine andere Autorin Jahre später einen ähnlichen
Erfolg mit ihren Gedichten errungen wie Urweider, nämlich Silke Scheuermann.
Auch bei ihr finden sich märchenhafte Motive, Sprichwörter oder Kinderreime
verarbeitet, meist in Zusammenhang gesetzt mit Liebesgeschichten und der weiten
kalten Welt, vornehmlich dem Weltall. Während Urweider noch im Fahrwasser
des Schrott-Erfolges mit Wissenschaftsversatzstücken glänzte, war
es bei Scheuermann scheints an der Zeit (nach dem Prosa-Fräulein-Wunder)
nun eine weibliche Lyrikerin mit liebesgetränkteren Tönen zu (er)finden
(woran die Autorin vermutlich unschuldig ist).
Anders als bei Urweider sind ihre Gedichte nicht von einer aufdringlichen Coolheit
durchsetzt, sondern reflektieren mit einer teils allerdings entwaffnenden Naivität
Liebeserlebnisse. Man trifft wohl immer wieder auf empfindsame Zeilen, die bestechen,
weil sie frei heraussagen, was manch anderer Dichter sich nicht traute. Ein
Märchentonfall, verbunden mit dem scheuen Gefühl einer ersten Liebe,
artikuliert sich in vielen Gedichten. So zum Beispiel im „Requiem für
einen gerade erst eroberten Planeten mit intensiver Strahlung“. Die Planetenmetapher
ist sicherlich nicht gerade originell, aber die Präzisierung „mit
intensiver Strahlung“ ist nicht nur sentimental, sondern hat aufgrund
der etwas umständlichen, fast unbeholfenen Länge des Titels doch etwas
Anziehendes. Ins Auge springende Stilmittel ist bei Scheuermann oft die sich
vergewissernde Anrede eines Gegenüber, die bei ihr immer auch auf einen
Art Zeigereflex des Kleinkindes, das gerade sprechen gelernt hat und alle Dinge
ausführlich beim Namen nennt und Papa zu zeigen versucht, zurückführt,
z.B. in Titeln wie „Die Schneelast drückt gewaltig/auf die Zweige
des Essigbaums schau“ oder etwas tantiger: „Belästigen Sie
andere nicht/ mit schlechten Träumen/ hören Sie das“. So sehr
der Tonfall einen einnehmen mag, diese Art der Kleine-Prinz-Koketterie ist immer
nahe am Kitsch gebaut. In dem prätentiös „Requiem“ genannten
Gedicht heißt es denn auch weiter: „das Lexikon unserer Luftschlösser“
oder „unseren Stern durchgesessen“, Zeilen, die die dann folgende
sehr schöne Stille im Gedicht allerdings noch nicht verunmöglichen:
„auf dem wir uns sehr genau kennenlernten
wenn wir dann stum am Fenster sitzen und rauchen
Nächte von fast vollkommener Stille
in denen nur deine letzten Sätze nachhallen“
Hier tritt ein schöner Wiedererkennungsmoment ein, denn wer würde
diese Szenerie nicht kennen? Sie berührt einen vor allem, weil sie die
Empfindsamkeit frühester (verliebter?) Einsamkeit in die Erinnerung ruft.
„Sie sprachen davon daß wir
beide eigentlich Himmelskörper sind
die eine so große Anziehungskraft haben
daß sie nicht einmal ihr eigenes Licht fortlassen
also nicht leuchten sondern schwarz sind
an ihrer Zunge verbrannte Erzähler“
Auch hier berührt die umständliche Ausbreitung des an sich schon
höchst pathetischen Bilds, als könnte die Autorin nicht davon lassen,
als müsse sie sich alles von der Seele reden. Das Gedicht lebt von der
(gespielten?) Hingabe des lyrischen Ichs, die unter der vorgeschobenen Reflexion
heftig pulst. Dieses Ich begreift dunkel etwas von den Widersprüchen und
Egoismen der Liebe, schwelgt aber, trotz vermeintlicher Distanz, in einem Pathos
des Subjekts. Das Sentimentale wird hier, ebenfalls handwerklich geschickt,
in ein Kindchen- oder auch Seelchenschema gefügt, hinter dem sich ein ausglühendes
Ich verbirgt... Leerformeln wie „Sie sprachen“ (ja wer eigentlich?
Hier wird nur eine Kulisse für die sentimentale Einsamkeit präpariert)
offenbaren dies ebenso wie vermeintlich tiefsinnige Sentenzen: „an ihrer
Zunge verbrannte Erzähler“. – Wie auch immer man dazu steht,
es gibt sie noch: Poesie als Trost für die am Herzen verbrannten Verliebten,
deren Metaphern goutiert, wer selbst noch im Glühkessel der Liebeserinnerungen
schmort (eieiei).
Von Hendrik Rost wird dagegen, vermeintlich doppelbödig, effektvoller Tiefsinn
produziert.
In einem seiner meistzitiertesten Gedichte scheut er sich nicht das großartige
Pflaumengedicht von W.C. Williams noch einmal aufzubereiten. Symptomatisch für
die Herangehensweise Rosts ruht sich der Autor dabei auf der genialen Kürze
des Originals aus, um das zu tun, was Williams Gedicht vermied (weshalb es gerade
so gut ist): Das nur angedeutete zeitliche und ortliche Setting wird ironisch-süffisant
ausgeplaudert und ausgeschmückt. Wo das Original Dichte bot und Räume
offen ließ, wird nun vorgekaut und von „Fuselpausen“, der
Kälte der Nacht, dem Licht des Kühlschranks etc. gefällig erzählt.
Auch wenn man sich zurecht gegen affektierte Unverständlichkeit, die nicht
Überflüssiges ausläßt, sondern Zusammenhänge lückenhaft
kleistert, wehrt mit einem ausnahmsweise landläufigen Mißtrauen,
wenn man baumsprachen nicht für baumkuchen hält, auch wenn man es
nicht ausreichend findet, zusammengesetzte Wörter in ihre Seme zu zerlegen
und damit glücklos blenden zu wollen, sollte man sich dieser Geschwätzigkeit
doch nicht anschließen:
„(...)In aller Stille war ihre Metapher
für Flucht die erst nach Tagen aus dem Negativ
entsteht wenn Fotos erste Hinweise geben
auf unsere Erinnerung. Die ganze Gegend bis
sie nach Westen im Meer abbricht war durchsetzt
mit ähnlichen Relikten ihren Scharten und Hohlräumen
die nach Moder und Schimmel riechen. Die Narben
im Gesicht der Dinge meinst du das Dunkel
in das ich ohne Blitz hineinfotographierte weil ich
auf den schmalen Streifen Licht vertraute der sich (...)“
etc. etc. in so einem allwissenden Parlando geht es immerzu weiter. Sicherlich
ist das auch an etlichen Stellen nicht uninteressant, man kann Rost denn auch
zugute halten, daß er keine überflüssigen, extravaganten Metaphern
benützt. Und doch muß hinzugefügt werden: Seine Verse, ein wenig
zusammenhängender erzählt, reichten versierteren Autoren allenfalls
für die ersten Sätze eine soliden Prosaerzählung aus. Hier wird
das Unambitionierte bereits zum magischen Moment zu verklären versucht.
Doch wer mit dem bei aller vermeintlichen Schlichtheit doch ziemlich großen
Anspruch daherkommt, die Welt beschreiben zu können, sollte mehr als ein
altkuges Selbstbewußtsein und eine patriarchale Geste der Übersicht
mitbringen.
Man sieht, daß, ob es sich um einen kunsthandwerklichen Setzkasten (Urweider),
sentimentale Einsamkeit (Scheuermann) oder das altväterliche Timbre (Rost)
handelt – oft eine biedere, genügsame, fast streberhafte Könnerschaft
am Werk ist, die einen fahlen Beigeschmack hinterläßt. Verwundert
stelle man fest, daß eine junge Generation in Ton und manche auch in Vortragsweise
(wie z.B Hendrik Rost) ihr Alter zum Vorbild genommen zu haben scheint, um im
Tempo 30 durch verkehrsberuhigte Zonen der Historie und Liebe zu tuckern. Sicherlich
entscheidet nicht die theoretische Komplexität über die Qualität
von Lyrik. Aber doch gehört das Bewußtsein dazu, daß Sprache
nicht nur Mittel zu lyrischem Sentiment oder gefälliger Reflexion ist,
sondern auch Vermittlung und Trug. Gerade weil bei den jungen pittoresken Dichtern
immer wieder verblüffend einnehmende Zeilen auftauchen und sie von einer
interessanten verdeckteren Beziehung zum Erleben zeugen können, die z.B.
etlichen „Alltags“-Dichtern der älteren Generation abgeht,
ärgert an dieser neuen Lyrik ihre schmucke Kunstfertigkeit und ihre freiwillige
Selbstbeschränkung auf Eindrücke, Stimmungen und poetische flash-lights.
Miniaturen und nostalgischer Widerhall
Doch gibt es auch Autoren, die der neuen Tendenz zum Privaten und Harmlosen
einen anderen Resonanzraum geben, deren Intonation reicher, stimmiger scheint.
Jan Wagner wäre da zu nennen. Er schafft es immer wieder, verblüffende
Bilder zu kreieren, die in ihrer miniaturhaften Nachbildung großer Gefühle
oder Zusammenhänge sehr gekonnt eingesetzt werden. Seine Bilder haben etwas
besonders pittoreskes, harmloses im genuinen, nicht zwangsläufig pejorativ
zu verstehenden Sinn. Wenn bei Wagner die Hitze Koffer stehen lässt, die
Stille wächst, die Stunden aus Näpfen der dunklen Turmuhren essen
oder ein Espresso zur Enklave der Nacht wird (was dann schon gefährlich
nett ist), so tauchen wir in einen Kosmos ein, in dem märchenhaft das Kleine
für das Große steht, in dem sich im biedersten Bild ein Reflex der
weiten Welt draussen wiederfindet und zum eigenen Traumbild harmonisch auswächst,
alle Widerstände einer zerrissenen Welt überblendend. Wagner schafft
es dabei sogar, die Resignation im Politischen ins Affirmative im Privaten umzuwandeln
und in seine Welt nahtlos einzufügen – vielleicht Grundzug der jungen
Generation, der in folgenden Zeilen hervorragend eingefangen wurde:
"wir steckten scheit um scheit in die öfen
wie wahlzettel in die urnen und stimmten mit ja"
Der politische Vorgang des Wählens in den Demokratien, den kritische Stimmen
nicht selten als quasi alternativlose Scheininszenierung darstellen, wird hier
neckisch wiederholt mit demselben Fatalismus des "einfachen Mannes"
(scheitern klingt ja auch in Scheit an), der seinen täglichen Verrichtungen
ebenso nachkommt wie den turnusmäßigen Wahlen, bei denen er doch
nur mit "Ja" stimmen kann. Inwiefern hier allerdings das falsche Politische
durch die Ironie desavouiert oder eher Privates durch die Anspielung auf die
höheren Geschäfte der Geschichte verbrämt und die heiter eingesetzte
Affirmation unwidersprochen stehen gelassen wird, bleibt offen.
Die Lektüre Wagners ist ein Wechselbad der Gefühle, je nach eigener
Disposition. Mal ist man erstaunt, wie unverblümt, mit welch Glauben jemand
an der Erschaffung seiner Gedichtwelt arbeitet, wenn es zum Beispiel heißt,
daß die heißen Herzen der Gläubigen sich an den weißen
Mauern der Kirche kühlen oder an einer anderen Stelle sich die Frösche
das Codewort weiterreichen. Und dann ist man doch gerade davon auf unerhörte
Weise eingenommen, ist diesem Autor für diese liebevollen Personifizierungen,
für diese Gutmütigkeit, die überall nur das spielerisch Geprobte,
das Pittoreske und Bildhafte sieht - dankbar, denn in diese Welt darf jeder
Unverdorbene eintreten.
Und in den besten Momenten tritt diese Dichtung aus dem Schatten ihres Vorbildes
Charles Simic und hat etwas von einer aus dem Kleinen ins Große aufsteigenden
Anschauung, einem staunenden Weltempfinden. Immerhin weist bei Wagner das Pittoreske
noch über das Private hinaus auf eine Bilderwelt, die, trotz aller Personifizierungen,
von den Dingen erzählen soll.
Zu der neuen Privatheit und Liebe zu braven, ungestörten Bildern wird man,
wenn auch eingeschränkt, Norbert Hummelt hinzurechnen müssen. Auch
bei ihm wird manches Wagnis zugunsten einer schlichten Erzählhaltung aufgegeben.
Die nostalgisch-melancholische Erzählung im einfachen Gewand unterliegt
einem Prinzip der Glättung der Gedichtelemente, die sich da, wo sie sich
allzu sehr bemüht, schon mal in peinlich altmodischen Sentenzen („wie
er so sacht die Stimmgabel schwang“) konterkariert. Sonst aber fließt
bei Hummelt im Großen und Ganzen die Sprache, absichtlich wenig gewagt
in der Form, und webt in einen beruhigenden Sound ein. Hummelt hat es geschafft,
einen Tonfall für Erinnerungen und reminiszente Stimmungen zu finden, der
vorher ungehört blieb. Seine Erinnerungen und extrem sachten, tastenden
Beschreibungen bewegen sich oftmals in einem fast leeren Raum, der nur mühsam
mit Momenten einer verklärten Erinnerung und Versatzstücken einer
romantisch durchsehnten, lastenden Dingwelt gefüllt wird.
die nacht
knips noch die lampe aus, wenn du vom klo kommst
laß uns schlafen, denn auch die neonleuchte drüben
nimmt ihr licht zurück: ihr eher ungesunder grüner
schimmer bleibt abgeschaltet für den rest der nacht.
ab jetzt ist nurmehr blässe hier im zimmer, queck-
silberträume, körpertemperatur geht in den keller, mit
meiner achselhöhle glaub ich stimmt was nicht. wir
ahnenbloß was unter uns passiert, so ganz geräuschlos
fleisch der phantasie; nur manchmal, tags, erkennst
du wäscheständer, ist eins der fenster auf, solang
gelüftet wird. (...)
wir
wissen wenig u. bemerken nichts; nur wie die amsel
manchmal unter dem container; kann sein nach irgend-
welchen resten sucht, kommt mir bekannt vor, wenn
ich hunger hab. du hast dich umgedreht; jetzt bin ich
wieder wach u. seh den traum in deinem auge flackern.
Hier besticht der Zug ins Private. Es wird versucht in vorsichtiger Annäherung
und durch das Weglassen einer möglicherweise störenden „Außensicht“
die „Dinge“ sprechen zu lassen. Was aber bleibt außer der
teilweise gelungenen Beschreibung von Alltäglichkeiten? Die Vorsicht und
der Rückgang auf eine nur leicht rhythmisierte Prosa erlauben zwar Emotionen
und Erinnerungen, aber sie bleiben doch im Raum des Gewöhnlichen, das kunstvoll
in einen Schwebezustand gebracht wird. Dort wo über die Beobachtung hinausgegangen
wird, enttarnt der Autor eine Leere, die die einer Generation zu sein scheint
(„ab jetzt ist nurmehr blässe hier im zimmer“). Vielleicht
wird hier auch nur das sokratische Nichtwissen, ja das Begrenzte des Lebens
überhaupt zu dem Bekenntnis einer Ratlosigkeit herabgestuft („wir
wissen wenig u. bemerken nichts“, „mit meiner achselhöhle glaub
ich stimmt was nicht“). Das stimmungsvolle „jetzt bin ich wieder
wach u. seh den traum in deinem auge flackern“ läßt bewußt
offen, welchen Traum, doch steht zu befürchten, daß er nicht sehr
bedeutsam wäre. Doch das scheint Absicht: In dieser romantisch unterhöhlten,
bleichen und auf einmalige Art sacht-liebevollen Zwischenwelt aus Gedächtnis
und Leere – wird ein Ton getroffen, der angesichts der alltäglichen
Bedrängnis und der Katastrophen vielleicht verblüfft, aber dann doch
auf seine Art in jenen schwarzen Fleck trifft, in dem eine ausgehebelte Sehnsucht
fatalistisch dämmert.
Das Problematische von Hummelts Haltung wird seltsamerweise gerade in einem
unwesentlich scheinenden Verfahren deutlich, nämlich dort, wo er beständig
das „und“ durch ein u. ersetzt. Sowohl von seinen wohlwollenden
Lesern als auch von seinen Gegnern als recht unerhebliche Eigenheit oder modisches
Beiwerk abgetan, ist es doch signifikant. Was Hummelt da erzeugt, markiert recht
einprägsam die Grenze zwischen Formneuerung und modischem Accessoire. Die
Abkürzung u. statt und konsequent angewendet verweist auf einen ganzen
Horizont von „Anzeigenliteratur“: Kleinanzeigen, amtliche Schreiben,
SMS etc. Daß gerade Hummelt diese Art von Komprimierung wählt, wo
er doch sonst einen eher ausführlichen erzählerischen Stil bevorzugt,
muß wundern. Aber er scheint seinem altmotischen Timbre selbst nicht zu
trauen, es muss etwas Nüchternes, Distanziertes hinein. Dieses darf aber
die Intonation nicht stören und soll nur als Gegengewicht zur romantischen
Position diese moderner scheinen lassen (weshalb ihm immer wieder fälschlich
Ironie unterstellt wird). Also wählt er ein ungefährliches, vor allem
nichtssagendes Mittel, das in keiner weiteren Relation steht zum Kontext. Das
eben unterscheidet es auch von methodisch angewandten Mitteln, wie sie andere
Dichter benutzen. Die ästhetische Entscheidung verspricht hier mehr, als
sie halten kann und will.
Hummelt ging, wenn man sich an seine Kölner Zeiten erinnert, ja einen weiten
Weg der Emanzipation von den sprachspielerischen Anfängen. Vielleicht kein
Zufall, daß er just ein wenig zu alt für die genannte Lyrikanthologie
war. Seine neu errungene Schlichtheit weiß noch, wovon sie sich gelöst
hat, ebenso wie der Ex-Dadaforscher Raoul Schrott, der vielleicht die neue Unbefangenheit
einläutete. Der aber wies in seinen Büchern eine Fülle von Material
in poetischer Collage auf. Hinter Schrotts Art, den prosaisch-allwissenden Ton,
der sich an Oberflächen begeistert, in die Lyrik einzuführen, blieb
das Wissen um den Anspruch einer Vermittlungsleistung und die Komplexität
des poetischen Vorgangs präsent und die etwas zu selbstsichere Lösung
von der vermeintlich deutschen Lyriktradition wurde in seinen frühen Büchern
durch einen neugierigen, bildungstrunkenen Eroberungsgeist ausgeglichen. Doch
wo Raoul Schrott zurecht das Gebaren gewisser, zumeist epigonaler, hermetisch
sich gebender Lyrik angriff, schüttete er doch in seinen theoretischen
Begleitschriften das Kind mit dem Bade aus, wenn er alle Ambivalenzen und sprachtheoretischen
Einflüsse mit dem der Kunstgeschichte entliehenen und dort gleichfalls
fragwürdigen Begriff der Mitte zu verbannen suchte. Die Forderung nach
neuer kräftiger Erzählung in der Lyrik mündet scheinbar darin,
daß zwar der Anspruch, Dichtung müsse mindestens Sprachtheorie oder
geschichtlich-politische Bedingungen oder seinen eigenen Schaffensprozeß
reflektieren, ein Stück weit zurückgenommen, aber noch lange kein
formbildender epischer Atem gewonnen wurde.
Nicht nur Autoren wie Björn Kuhligk, der lieber (ironisch) von „neuer
Zerbrechlichkeit“ als von „pittoresk“ redet, und bei dem es
eine Menge urbaner, gewaltsamer Szenerien gibt, oder slam-Poeten wie Bastian
Böttcher mit seinen rhythmisch sehr einprägsamen, aber inhaltlich
fragwürdigen Hip-Hop-Puppen-Poppen-Reimen („Ein fetter Westwind weht,
doch weil wir wetterfest sind“) fügen sich in die pittoreske oder
harmlose Tendenz, denn diese lebt von der bildlichen Szene und der griffigen
Sentenz, bleibt aber im Innern zahm. So bekennt sich einer der besseren Autoren
der slam-Szene, Knud Wollenberger, der wohl auch durch seine gebrochene Biographie
zu Berliner Tuschelruhm gelangte, die Zeichen der Zeit erkennend, inzwischen
offen zur „Neuromantik“.
Das Problem der neuen Lyrik, sieht man von einigen, teils genannten Ausnahmen
ab, liegt aber weder im Tonfall, noch in fehlender Beobachtungsgabe. Das Problem
ist eher, daß die postmoderne Distanz, die Selbstreflexion und das Zusammentreffen
unvereinbar geglaubter Momente, das Hereinstehen eines Unverständlichen
(das, was Adorno das Inkommensurable genannt hat) bei vielen vor allem imitiert
werden. Unter dem wohltemperierten Design, das sich auch mal brüchig gibt,
lebt ungebrochen ein Subjektivitätspathos, das wohl zu klug für einfachen
Kitsch, nicht aber gebrochen genug für eine komplexe lyrische Faltung ist.
Dabei ist sowohl Pathos wie auch Subjektivität meist unverzichtbar für
Lyrik. Aber das Pathos und das Subjektive müßten nicht nur in Relevanz
auf das eigenen Erleben reflektiert werden oder zumindest eine Spur zu anderen
Ebenen legen. Von den Erschütterungen der Neuzeit, des Subjekts, der Sprache
— ist hier meist nichts mehr zu spüren.
Sicherlich, kein Gedicht muß irgendetwas. Nicht Flucht aus der Welt oder
begrenzte Räume können einem Autoren vorgeworfen werden, wohl aber
allzu satte Harmlosigkeit, Etikettenschwindel oder Verniedlichung.
Selbst ein Autor wie Uwe Tellkamp, dessen traumwandlerische Dichtung „Nautilus“
passagenweise große Hoffnungen nicht nur weckte, sondern einlöste,
offenbart gerade da, wo er über seine Vorbilder und vor allem über
die quasiselbstreferenzielle subjektive Autopoesi(e)s hinausgehen will und wuchtig
in die angebliche Wirklichkeit der Pop- und Warenwelt eintauchen will, eine
eklatante Naivität, die übrigens — und hier ist einmal ein Argument
ad hominem am Platz — sich auch schrecklich offenbart, wenn man seine
kabarettartige, biedere Vortragskunst beobachten muß. Den sehnsüchtigen
Wunsch, einmal wie ein Autor eines Faust II vor dem Publikum zu brillieren,
mag man dem Autor verzeihen. Aber seine derart „zeitgemäße“
Mythologisierung unseres kapitalistischen Alltags nicht.
Was bei seinen Traumbildern und Erinnerungsfragmenten noch recht ist (das collageartige
Gefüge), ist doch mehr als billig, wenn er den Sprachsound der Medien nachäfft,
zwar mit Assonanzen und Assoziationen angereichert, aber darin doch widerstandslos
peppig — und überdies prätentiös mit alten Formen hochstapelnd.
Aber auch wo er sich schlicht gibt, offenbart er plötzlich eine Banalität,
die schlechterdings überrascht:
„der zahnarzttermin kreuzt sich mit der wohnungsbesichtigung,
benzin ist wieder teurer geworden, und die heizkosten
werden steigen, läßt uns das aschenschiff wissen,
die babysitterin hat abgesagt für morgen. die forderungen
wachsen wie barthaare. (...)
toastscheiben hüpfen wie frösche
aus dem röster, tanzen durch unsere hände, fallen
vierzig stockwerke tief aus dem fenster, du lachst.“
Aus dieser Perspektive werden auch seine poetischeren Motive auf einmal fragwürdig:
„augen versuchen sich miteinander,
öffnen eine geheimtür für den zitronenfalter“.
Nicht einmal der abgegriffene quietschgelbe Falter müßte hier so
sehr stören, ginge nicht das kitschige „augen versuchen sich miteinander“
voraus. Schöne harmlose Welt.
Es scheint, daß in dieser neuen Generation doch viel Unbefangenheit gedeiht.
Andererseits schaffen es gerade die jungen Lyriker, die noch stärker an
die vorhergegangene Generation anknüpfen und größere Ansprüche
hegen – nicht, bei aller Komplexität und Virtuosität –
eine überzeugend neue Intonation zu finden, zu sehr scheint die Dichtung
der Vorbilder: Kling, Egger, Arno Schmidt u.a. zu drücken.
Doch auch eines soll gesagt sein: Den Mustereleven der alten Schulen, ob es
sich um die letzten Ausläufer einer Lautpoesie handelt, um hermetische
Rätseleien oder um die Nachfolger der leicht geschwätzigen Tradition
melancholischer Alt- und Großdichter (Walcott, Brodskij, Grünbein
etc.) handelt,- ist die Unbedarftheit neuer Privatheit unter Umständen
vorzuziehen, nicht weil sie sich auch in anderen Gebieten durchsetzt und einem
Zeitgeistbedürfnis entspricht, sondern weil darin mehr an Möglichkeit,
zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, liegen mag. Vielleicht schaffen gerade die
Rückzüge der neuen Dichter Räume für eine unmöglich
gehaltene trotzige und nicht zuletzt eigensinnige Individualität, die doch
unabkömmlich für jede Lyrik ist.
Franz-Josef Czernin und die späten Postavantgarden – Ein
Pamphlet
Während sich die junge Poesie in Deutschland immer mehr in pittoreske Gesten
einübt und dabei wenn auch harmlose, so doch kaum für möglich
gehaltene und nicht in jedem Fall zu verwerfende Allianzen mit einer stimmungsvollen
Unmittelbarkeit eingeht, formieren sich die alten Brigaden der späten Postavantgarde.
Zuletzt hat ein Mentor der Richtung, Urs Engeler, ein ganzes Heft „Zwischen
den Zeilen“, eine der wichtigen Zeitschriften für avancierte Lyrik
der letzten Jahre, dem „Avantgardisten“ Franz-Josef-Czernin und
seiner nächsten Umgebung gegönnt. Zuvor erschien bereits ein etwas
anmaßend „Widerstandsnest“ genanntes Heft unter der Ägide
Ulf Stolterfohts, in dem viel von dem versammelt ist, was sich noch progressiv
dünkt: Allesumfassende fakälisierende Weltwustlyrik, verschwiemelte
Religionsdekonstruktionen und nicht zuletzt das bekannte aufgetürmte Wortgebabel
in verschiedenen Ausformungen, auch die vergreiste Palindromdichtung spielt
noch einmal Nesthäkchen.
Parallel dazu und wohl in Stellvertretung für eine bestimmte etablierte
Literatenschicht, wehrt ein folgsamer Apologet der Altavantgardisten, Sebastian
Kiefer, in anderen Organen vehement Kritik ab, bejubelt die Werke der Leitwölfe
und beurteilt abschätzig das fremde Junggemüse. Während das kaum
vorhandene Publikum (von Markt zu reden ist lächerlich) wohl unbeabsichtigt
(da unbeleckt) auf Seite der Jungen ist, schaut der Gralshüter Kiefer um
so verbitterter auf die vermeintlich ausgemachte neue Rückständigkeit,
behält aber, betriebsbedingt, noch das letzte Wort. Seine Aufräumarbeiten
sind, nicht nur wegen ihrer angestrengten Anleihen beim adornitischen Polemikjargon,
einer Diskussion nicht immer zuträglich, schon gar nicht der jungen Lyriklandschaft.
Man wird den Verdacht nicht los, daß einen Kritiker, der schon mal leicht
altbackene Dichter wie Rühmkorf und Enzensberger lobt, aber Talente wie
Daniel Falb und Monika Rinck meint mit zwei Sätzen abfertigen zu können,
doch recht undurchschaubare Ressentiments umtreiben. Selbst wo er im Ansatz
Recht hat, und das ist eigentlich nicht selten der Fall, scheint seine Kritik
etwas zu aufgekratzt und driftet schon mal, wie in seinen gekränkten Beschreibungen
der Berliner Szene, ins unfreiwillig Karrikatureske ab.
Was dem Geist an weltanschaulich-kritischem oder luzidem Verstande fehle, mithin
auch an Theorie oder zumindest an sprachlicher Höhe der Zeit, könne
die sinnliche und bildliche Kraft einer Naivität ausgleichen, ist ein unter
unbedarften Poeten weitverbreiteter Irrglauben. Doch die Umkehrung dieses Satzes:
Theorie oder Systematik richte, was an dichterischer Eingebung, Feingefühl,
an Beobachtungsgabe oder Erfahrungsgehalt fehle, ist in der Praxis wohl ebenso
trügerisch und wird auch nicht durch das angeblich banausische Desinteresse
des Publikums in einer Art seltsamen Umkehrschlusses gerechtfertigt.
Nicht immer ist es der unbedarfte Dichter des alltäglichen Lebens, den
man der Schuldigkeit des Es-sich-leicht-Machens überführen kann (nur
dem Publikum machen sie es leicht) - dieser scheitert genau genommen eher am
gewaltigen Anspruch, den er doch naiv vertritt (nämlich Wirklichkeit abzubilden).
Zu leicht macht es sich auch die Gegenposition, eben jene Nachhut einer ehemaligen
Avantgarde, die sich schon lange auf bekannte Theorien und Ansätze verläßt
und gegen Kritik in ihrer gefahrlosen Unpersönlichkeit der Herangehensweise
per se immunisiert scheint.
Sicherlich läßt sich das nicht pauschalisieren. Im oben genannten
Zwischen-den-Zeilen-Heft Czernins z.B. finden sich Beiträge von Felix Philipp
Ingold, die überzeugen. Seine „stille Post“-Idee der Rückübertragungen
russischer Shakespeareübersetzungen geriert sich zwar theoretisch etwas
gravitätisch, ist aber in der Ausführung gewitzt und temperamentvoll.
Auch darf man nicht vergessen, daß aus dem weiteren Umfeld der Spätavantgarde
immer noch die besten deutschsprachigen Lyriker und Lyrikerinnen kommen, daß
sie in der Tat Lyrikgeschichte schrieben und schreiben, man denke da nicht nur
an die graue Vorzeit der Wiener Gruppe, sondern auch an spätere phänomenale
Erscheinungen wie die Zeitschrift „Der Prokurist“, an Oskar Pastior,
an eben Oswald Egger oder den genannten Ulf Stolterfoht, an den populären
Thomas Kling, an Friederike Mayröcker und andere. Umso schlimmer, daß
manche Autoren (nicht unbedingt die genannten), die eigentlich weit von elitärem,
zirkelhaften Gebaren entfernt sein sollten, die Cliquenwirtschaft der alten
Avantgarden mitmachen.
Nicht alles, was vermeintliche Fehler vermeidet und noch durch die Wiener Schule
ging oder dort Weihe erhielt, wird auch gut. Arriviertester und zugleich exemplarischster
Exponent einer verengten oder zumindest in die Jahre gekommenen fortschrittsorientierten
Auffassung von Lyrik ist Czernin. Die Beteuerung Czernins, seine Dichtung bedürfe
kaum eines Vorwissens - mag stimmen. Eine Vorliebe für umständliche
Reflexion, für sprunghaftes Denken oder Stochern im Nebel darf dem Leser,
wenn er sich diesen bröckelnden Wortsteinbrüchen nähert, aber
nicht abgehen. Czernins Dichtung – eine Dichtung eines angestrengt und
autoritär auftretenden Schwerstarbeiters - setzt Wörter wie aus Größerem
abgeschlagene, aufgelesene Fundstücke zusammen oder produziert auch schon
mal vorgeblich locker, wie im neuen Zwischen-den-Zeilen-Heft, andeutungshafte
Aphorismen. Normalerweise buchstabiert Czernin Sonette durch, besticht mit allerdings
ungewöhnlichen Wortketten, die ihm selbst ab und an unsinnig erscheinen
("nichts wieder scheint damit dies sprechen"), und in denen dann,
wie ein begeisterter Kritiker schreibt, „mosaikartig (...) die Wörter
nach allen Seiten ausstrahlen“. Angesichts seiner teils grammatikalisch
kruden Wendungen und seiner knorrigen Sinnverwachsungen, drängt sich einem
allerdings weniger der Vergleich mit einem Mosaik auf, als vielmehr mit verklumpten
Neujahrsbleifiguren, die bruzzelnd aus dem analytischen Kühlwasser gesiebt
werden. Bei Czernin klingt das etwas gediegener, zum Beispiel so: „dass
diese Sonette (...) einander gegenseitig erläutern, kommentieren, ja interpretieren:
daß jedes Gedicht durch jede seiner Übertragungen verständlicher
wird...“
Was sich allerdings in den Gedichten Czernins erschließen läßt,
erscheint zunächst einmal als banale verreflexierende Spielerei mit Doppelbedeutungen
von Wörtern, Semen, etc. Darüber hinaus arbeitet Czernin aber seit
Jahrzehnten an einer quasi programmatisch-systematischen Dichtung, an sich ein
interessantes Unterfangen. Doch wo Systematik ist, ist noch lange keine poetische
Erkenntnis, wo bedeutungsvoll Wörter sich reihen, entstehen zwar Verbindungen
zwischen diesen, besteht aber noch lange kein interessanter Zusammenhang, so
elaboriert dieser auch sein mag.
Wo die czerninsche Systematik und die unverständlich daherkommenden Verse
den unbedarften Leser abschrecken, wecken sie aber bei den Beschlageneren tiefste
Gelüste nach elitärem Habitus, bequemem Sich-Einnisten im Intellektuellen
und verleihen dem Eingeweihten einen Glorienschein unverstandenen Neuerertums.
Dieser Anspruch wird dann von Begleitschriften treuer Germanisten noch unterstrichen.
(siehe das Zwischen-den-Zeilen-Heft)
"Ich stelle mir vor, daß Literatur die Expedition in eine Gegend
ist, in der ich noch nicht war."
Reicht das? Warum sollte man ihm folgen? Weil es bei ihm keine gängigen
Klischees, keine mißglückten Versuche emotionaler Beschreibung gibt?
Das ist eine notwendige, nicht hinreichende Bedingung für ein gutes Gedicht.
"Beispiele österreichischer Wortakrobatik", wie es im Titel eines
vor kurzem erschienenen Sammelbandes mit „Avantgardelyrik“ heißt,
bezeichnet genau die Crux auch seiner Dichtung. Denn: Dichtung sollte nicht
akrobatisch sein und keine Beispiele für Theorie geben. Dichtung ist überhaupt
erst einmal nicht beispielhaft, sondern, bei allen Überschreibungen, die
sich in Texte eintragen, singulär – ist nicht Turnübung, sondern,
wenn schon, dann Handwerk. Allerdings nicht rein philologisches. Man mag noch
so präzise arbeiten, jene andere Klarheit der Dichtung – oder auch
ihr Geheimnis, von dem Czernin redet, fügt sich nicht unbedingt solcher
Anstrengung.
Ein Autor wie Czernin, der sich seit Jahren als Aufklärer, Enthüller
und Polemiker betätigt, stützt zwar seine Kritiken selbst stets durch
pedantisch-professorale Untersuchungen, sollte sich aber auch andere Arten von
Polemik gefallen lassen. Die persönliche Motivation, die sich an dem Unvergnügen
bei der Lektüre entzündet, ist zunächst einmal nichts weniger
wert als ein wissenschaftlich sich gebender Aufsatz. Nicht unbedingt in Seminaren
wird über die Qualität von Lyrik entschieden.
Man muß auch nicht Czernins (oder übrigens auch Kiefers) akribischem,
pädagogisch-aufklärerischen Gestus der Kritik folgen, um sich wie
sie in Einzelheiten, die immer irgendetwas beweisen sollen, zu verzetteln. Wer
sich erst einmal auf diesen pseudoobjektiven Diskurs einläßt, hat
nicht mehr viel zu lachen: Die bedeutungsschwangere, von unterschwelligem Pathos
getragene, aus guten Gründen staatsfinanzierte Lyrik Czernins muß
ihren Aufwand an Beschäftigung mit nichts als der Eigenliebe zur ereignis-
und erfahrungslosen „Wortakrobatik“ ja irgendwie rechtfertigen.
Man darf das nicht verwechseln: Hier ist nicht jener Philologe am Werk, der
jeder Dichter sein muß, sondern der allzu rechtschaffene Eigentümer
von Wortmaterial. Die Dichothomien aber, die er wirkungsvoll in die lyrische
Diskussion streut, sind verhängnisvoll: Denn um progressive Dichtung auf
der Höhe der Zeit hier, läppische Rückständigkeit dort (die
einem in ihrer angeblichen „Unmöglichkeit“ ja fast sympathisch
würde) – sollte es in dieser einfachen Polarität schon lange
nicht mehr gehen.
Sein Nachteil ist sein Vorteil. Der Dichtung Czernins könnte immerhin,
wenn man von der hausbackenen, dabei längst arrivierten Intention des Autors
absähe, eines innewohnen: Die völlige Absenz von Inanspruchnahme oder
Forderung. Wer hier eintritt, lasse alle Zusammenhänge fahren. Aus Versen
wie: "euch sack voll knochen krumm vernagelnd, mir verpasse/glieder unmäßig,
wie ich dürftig, faul, in stümpfen/mich teil mit euch; geleimt, geschraubt,
mir selbst zur last/zusammenflick euch maul, zerreiß in wie viel rümpfen"
nehme sich ein jeder seinen Teil. Eine Art enzensbergersche Lyrikmaschine, befreit
von konventioneller Grammatik. Höherer Blödsinn, wunderbares Bersten
einer brachial aufgerüttelten Logik: "ich reiß viel blöd
wo wasser kratzt mit feuer steinen erde dummgenagelt angeschossen trieft in
babelsland von schmatz." Und irgendwie stellt sich dabei eine gewisse Befriedigung
einer "reinen", nichts und niemandem etwas schuldigen, unverbrauchten,
unendlich fortzuführenden Tätigkeit ein. Es leuchtet aber dann an
vielen Stellen kaum ein, weshalb der Leser nicht besser zu einem Wörterbuch
greifen sollte. In der Tat ist in diesem die geleistete Arbeit nicht nur einsichtiger,
sondern auch spannungsreicher: Dort gibt es nämlich, da Zeichen einerseits
arbiträr sind, andererseits auf Geschichte, Etymologien verweisen, ein
riesiges, in der Tat strukturiertes Feld voll zu entdeckender Kongruenzen, Differenzen
etc, mit dem kein Czerningedicht mithalten kann. Dessen Philologeneier gleichen
sich doch alle wie ein im Beispiel gespiegelten Ei dem anderen.
Um weniges überzeugender ist die Übersetzungsarbeit Czernins. Auch
sie muß hier angeführt werden, weil einerseits das sehr freie, mitunter
willkürliche Übersetzen längst konventionelle Mode geworden ist
und zum anderen hier die Hybris und Schwäche Czernins größtenteils
symptomatisch für manche avantgardistischen Zirkel ist. Was in seinen Shakespearesonetten
als Übertragung sich geriert – ist zwar wohldurchdacht, sogar in
einem gewissen Sinne philologisch genau – aber weit entfernt von jener
Größe, die Shakespeares Gedichte noch heute ausstrahlen, maßt
sich dabei aber an, diese aufpolieren zu können (im Gegensatz zum Beispiel
zu der gewitzten freien Abschweifungsübertragung Ulrike Draesners, die
letztlich bescheiden bleibt).
Gerade die Fähigkeit der Shakespeareschen Sonette, uns eine fremde Zeit
auf seltsame Art vertraut erscheinen zu lassen, macht das Anliegen Czernins,
jede Antiquität aus dem guten alten Text herauszuprügeln, umso peinlicher.
Hier bewahrheitet sich, daß es nicht genügt, sich an postmodernen
Maximen aufzuschwingen, um auch tatsächlich beflügelt zu neuen Ufern
überzusetzen. Wer denkt, diese Art der Übertragung schreibe den Text,
den er sich einverleibte, adäquat weiter, verkennt, daß mehr zur
Übersetzung gehört, als das Original aufmerksam, inventiv-intensiv,
die historische Distanz berücksichtigend gelesen zu haben.
Dabei geht es nicht um einzelne gelungene, ja zuweilen tatsächlich auf
erstaunliche Art Shakespeare weiterdenkende Strophen in Czernins Übertragung,
sondern in der Tat um das Ganze, auf das er doch zielt. Denn nicht unbedingt
das Willkürliche der Faltungen seiner Shakespearelektüre stört,
sondern der dahinter waltende pedantische Geist, die Krankheit, jedes Bild zu
Tode zu schwiemeln, auszutrocknen, an den kleinlichsten Stellen zu reflektieren
und dabei das zu vernachlässigen, was seine schamlosen Lobhudler „landläufige
Konvention“ nennen, handelte es sich doch dabei in diesem Fall eher um
Dinge wie Schwung, Klang, Intonation, dramaturgische Schlüssigkeit, Referentialität
zum Erleben, Weite der Bildlichkeit und andere durchaus poetische Kategorien.
Ganz zu schweigen von politisch-gesellschaftlichen und nicht zuletzt in diesem
Fall erotischen Aspekten, die fehlen. Was bei Shakespeare Tragödie und
Lob der Liebe ist, wird so bei Czernin zu angestrengter Querdenkerei und drögem
Kleinmut.
Was sich immerhin aus der Programmatik Czernins übernehmen läßt,
ist die Idee eines poetischen Radikalismus'. Der scheint mir notwendiger denn
je. Ohne sich dabei entweder in Formverrenkungen oder biederer Professionalität
zu erschöpfen, müßte man Relevanz jenseits von "Vermittelbarkeit"
und "Nähe zum Leben" erst einmal wieder in den Blick bekommen,–
sprich: ruhig maßlose Erwartungen an Lyrik wecken.
Hendrik Jackson