„Gedichte wie Tore“: Zum Auftakt von abrasch.
Eine Sammlung für Poesie als Übersetzung


„Dichterisches Reden ist ein Teppichgewebe mit einer Vielzahl von textilen Grundstoffen, welche sich voneinander lediglich durch die Farbgebung bei der Ausführung unterscheiden...“
Ossip Mandelstam, Gespräch über Dante

„Die Gewebe begünstigen ihrem Wesen nach die Täuschung; man spricht nicht umsonst vom Lügengewebe, vom Lügennetz, vom Lügengespinst. Daher muß das Gesponnene mit Überredung verkauft werden [...]“
Ernst Jünger, Das abenteuerliche Herz; In den Kaufläden, 2 (Goslar)


Abrasch
Wenn beim Teppichknüpfen der Faden ausgeht, muß bisweilen eine kleine Abweichung in der Tönung in Kauf genommen werden: der Abrasch. So geht es für den, des Persischen unkundigen Leser, bereits aus der vorangestellten Leitglosse hervor. Aber Abrasch bezeichnet auch die gewollte Abweichung (als Abwandlung): weil die „auf Vollkommenheit gierigen Dämonen“ nicht mit sich spaßen lassen – alles wird geduldet, nur nicht Perfektion. Die Analogie ist schlüssig, kann es doch die vollkommene Übersetzung per definitionem nicht geben. Und ebenso wie beim Abrasch lassen sich auch bei der literarischen (poetischen) Übersetzung Häufigkeit und vor allem Grad der Abweichung in der Regel nicht objektiv bestimmen: „Beim Übersetzen sind so viele – sich oft gegenseitig ausschließende – Bedingungen zu erfüllen, daß man im Verlaufe der Geschichte des Problems immer wieder die analytischen Waffen gestreckt und das Übersetzen für eigentlich unmöglich erklärt hat“, schreibt Friedmar Apel 1983 in seiner Einführung zur literarischen Übersetzung – Was dem einen Abweichung ist, kann dem andern für „Texttreue“ gelten. Und kann jede Nicht-Übereinstimmung bereits Abweichung genannt werden? Abweichung wovon? Vom Ausgangstext? Von seiner „Intention“? Woran macht man sie fest? Von seinen inhaltlichen, syntaktischen oder metrischen Strukturen? Von seinem Tonfall? (Für Marguerite Duras gehören die „musikalischen Abweichungen“ zu den schlimmsten übersetzerischen „Vergehen“.) Abweichung von den, offenen oder latenten, Vorgaben der Zielkultur, vom Erwartungshorizont, vom ungeschriebenen Kanon des Zulässigen, Nicht-Anstoßerregenden? Oder Abweichung als zieltextinterne Inkohärenz, Abweichung vom selbstgesteckten Ziel, vom eigenen Programm? Poesie als Übersetzung
Einer der am öftesten geübten Kunstgriffe, um der immer wieder proklamierten „Unübersetzbarkeit“ von Poesie theoretisch Herr zu werden, ist jener der Gleich-Setzung: Man schließt Poesie und Übersetzung kurz, setzt Poesie als Übersetzung und Übersetzung als Metapher für den schöpferischen, poetisch-schaffenden Akt. „Übersetzen ist so gut dichten, als eigene Werke zustande bringen“, schreibt schon Novalis an August Wilhelm Schlegel, „- und schwerer, seltener. Am Ende ist alle Poesie Übersetzung“; „Keine Sprache ist Muttersprache. Dichten ist Nachdichten“, liest man bei Marina Zwetajewa. Dichtung wird so als Transposition eines Vorsprachlichen in Sprache, „eines hermetischen Kerns in sein ästhetisches Äquivalent“ verstanden (Brigitte Oleschinski), während Sprache, als Transformation der nichtverbalen Welt in die Welt der Zeichen (als Übersetzung von Zeichen in andere Zeichen), ihrerseits bereits Übersetzung ist. Und wenn die Verwandlung von Ungesprochenem oder Unausgesprochenem in Worte, wenn die initiale Versprachlichung mentaler Zusammenhänge als „Übersetzung“ bezeichnet werden darf, so ist es nur füglich, von einer „Poesie als Übersetzung“ reden. Roberts Frost Definition von Poesie als dessen, was in der Übersetzung verloren geht, sowie Roman Jakobsons apodiktischem Diktum, der auf Paranomasien aufgebaute poetische Text sei per se unübersetzbar und lediglich durch kreative Transposition wiederzugeben, steht so die Übersetzung als Poesie, die Poesie als Übersetzung gegenüber: ohne Rücksicht, oder besser, mit Rücksicht auf allfällige Abweichungen und Verluste. So sind, was im ersten Begleitband zu Abrasch fokussiert wird, weniger Verortungen in bezug auf mögliche Prinzipien der Übersetzung, als Reflexionen zur Übersetzung als Prinzip – Prinzip, das schon den Einzelsprachen eingeschrieben ist.
Verzichtet wurde - mit Ausnahme zahlreicher Anspielungen auf den Übersetzungs-Denker Walter Benjamin, dessen „Aufgabe des Übersetzers“ der romantischen Übersetzungsauffassung konstitutionell verschuldet bleibt - auf die Kontextualisierung dieser Prämissen aus historischer Perspektive. Denn Dichten als Übersetzen, Dichtung als Nachdichtung zu verstehen, das war ein bereits in der Poetik der romantischen Schule grundlegend verankerter Gedanke. Und wenn (literarisches) Sprechen Übersetzung von Sein (Welt) in Sprache ist, so kommt der literarischen Übersetzung in der „Rangordnung“ der Formen des poetischen Ausdrucks eine mehr als nur würdige Aufgabe zu. Dazu gehört auch die Konzeption von Übersetzung als Motor für Verschiedenheit wie sie, lange vor Benjamins bahnbrechendem Aufsatz, in romantischen Übersetzungstheorien an zentraler Stelle aufscheint. Die Übersetzung als Beitrag zum Fortleben des übersetzten Werkes einerseits, und als Paradigma des Werdens, der werdenden Kunstform andererseits: eine Identifikation, deren Stufen sich, bis zur emphatischen Einverleibung in das eigene Programm („Das Romantische ist eine Übersetzung“) beinahe ununterbrochen nachzeichnen lassen.
Doch am klarsten und komplexesten hat sich Johann Georg Hamann für eine Poesie als Übersetzung ausgesprochen. Für ihn ist das Problem der Übersetzung an jenes der Sprachgebundenheit des Denkens gekoppelt und Poesie, als „Muttersprache des menschlichen Geschlechts“, ist bereits in ihrer Anlage Übersetzung. So steht Hamanns Konzeption der Übersetzung (Rede) als „umgekehrte Seite von Tapeten“ (ein Bild, das eigentlich auf Cervantes’ zurückgeht) Pate sowohl für die konzeptuelle Gestaltung als auch für das äußere Antlitz der Serie Abrasch: „Reden ist Übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, das heißt, Gedanken in Worte, - Sachen in Namen, - Bilder in Zeichen; die poetisch oder kyriologisch, historisch, oder symbolisch oder hieroglyphisch - - und philosophisch oder charakteristisch seyn können. Diese Art der Übersetzung (verstehe Reden) kommt mehr, als irgend eine andere, mit der verkehrten Seite von Tapeten überein.“ Und Tapeten tragen, unter Rekurs auf Hamanns Diktum, auch die einzelnen Bände der Reihe: Tapeten, die wechseln versteht sich...
Als weiterer Gewährsmann und ganz im Sinne des gewählten Leitbildes der Teppiche wird Ossip Mandelstam aufgerufen, und zwar mit jener Gewebemetaphorik aus dem Gespräch über Dante, die schon Aage A. Hansen-Löve zu einem Aufsatz in Oswald Eggers Prokuristen animierte: Die dichterische Rede ist Mandelstam „Teppichgewebe“, „ein Teppich von höchster Konsistenz, ganz aus Flüssigkeit gewebt – ein Teppich innerhalb dessen die Wasser des Ganges, verstanden als textile Thematik, sich nicht vermengen mit Gewässerproben aus dem Nil oder Euphrat, sondern erhalten bleiben in ihren verschiedenfarbigen Strängen, Figuren, Ornamenten, nicht aber in ihrer Musterung, denn das Muster ist ja nichts anderes als eine Nacherzählung.“ Wenn Dichtung ein – aus Flüssigkeit gewobenes – Teppichgebilde ist, dann ist die Übersetzung ein noch weiter gesponnener, vielleicht versponnender Teppich, ein umgegossener Teppich, der ebenfalls Stränge, Figuren und Ornamente zu wahren sucht, das Muster (die Nacherzählung) aber unterschlägt oder veruntreut. Ein Abrasch entsteht da, wo diese Veruntreuung – willkürlich oder unwillkürlich - ansetzt. Und wenn ferner das dichterische Gewebe aus Wirklichkeit geknüpft ist („Das Muster – verzettelt zu Zeilen“), so ist es vielleicht Aufgabe des Übersetzers, das vorgefundene Teppichgewebe zu einem neuen zu „verzetteln“, zu einem Gewebe, das, um Ernst Jüngers Vermutung aufzugreifen, unter Umständen die „Täuschung“ begünstigt: Eine Täuschung, die jedoch dem Text durchaus nicht zum Nachteil gereichen muß.

Von Franco Fortini, der in der Übersetzung von Manfred Bauschulte die Reihe im vergangenen Frühjahr eröffnete, stammt auch der Aufsatz „Kafka übersetzen. Die Verwandlung in zwei Wörtern“, in dem, ausgehend von der (nicht unproblematischen) Unterscheidung zwischen „Autoren-“und „Auftragsübersetzung“, aus eigener Erfahrung Stellung bezogen wird zu Problemen beim Kafka Übersetzen ins Italienische. Aus der eigenen Übersetzungspraxis heraus erhellt Fortini, unter inhaltlichen, stilistischen, rezeptionsrelevanten und metaphysischen Prämissen, die Schwierigkeiten des nüchtern-unheimlichen Einstiegssatzes der Verwandlung für den Übersetzer aus dem Deutschen: Zentral dabei ist das Problem der, in ihrer vernichtenden Negationsgewalt ins vermeintlich „leichtere“ Italienisch nahezu unübertragbaren deutschen Vorsilbe „un“ („un-geheuer“, Un-mensch, Un-tier etc.) Fortini stellt sich mit Recht gegen die explizierende, vorauseilend interpretierende Übersetzung, die Textkritik vor Textgestaltung setzt (zwischen „introduction“ und „traduction“ unterscheidet der französische Bibelübersetzer und Übersetzungstheoretiker Henri Meschonnic) und über einem Zuviel an Metasprache und Paraphrase die polyvalente literarische Machart des Textes negiert: „Ein stilistischer Laser, der aus dem Jenseits des Lebens kommt, zerschneidet den Erzähler. Er rechtfertigt, nimmt vorweg, argumentiert mit einer Logik des Lächerlichen und fachsimpelt über das Nichts. Ein Maximum an Beweisführung bei einem Minimum an Aussage.“ So merkwürdig die Metapher des „stilistischen Lasers“ auch anmuten mag: Eine kluge und gültige Analyse, die nicht haltmacht beim Ausbreiten und Aufzeigen von Spitzfindigkeiten, sondern das Fallbeispiel unter ständiger Rückbindung an die zugrundeliegende Poetik erörtert. Übersetzung der Verwandlung: Übersetzung als Verwandlung. Gut, daß dieser kleine Text über eine Übersetzung aus dem Deutschen seinen Weg (zurück) ins Deutsche gefunden hat.
Der Übersetzer dieses Aufsatzes zum Übersetzen ist auch Autor des nächsten Beitrags, gehalten in einem Stil, der auf auffällige Weise an das genaue, gewundene und wundersame, der tastenden etymologischen Erkundung verhaftete Schreiben eines Thomas Schestag gemahnt. Es ist ein einziger Satz, den sich Bauschulte vornimmt, und er ist auch ohne Kontextualisierung sprechend genug: es ist die (einem seiner Gedichte entlehnte) Grabinschrift von René Char. Von ihr ausgehend spürt Bauschulte der Begegnung von Original und Übersetzung in einem, von Klang und Konnotationen der Wörter eröffneten Raum nach, sucht nach Analogien zwischen Dynamik (Spannung) der Syntax und Eigendynamik des Bildes, macht „Energieherde“ und Zonen der „Entladung“ ausfindig und bleibt dabei im Großen und Ganzen einem metaphysischen Modell der Buchstäblichkeit verhaftet. So sehr die, zwischen Vertiefung der Textsemantik und Lautmystizismus changierende Argumentation im einzelnen für sich einnehmen mag, so stutzig macht doch ihre unverhohlen normative Ausrichtung: Zwischen Fortinis vorsichtigem „Ich schlage folgende Variante vor“ und Bauschultes apodiktischem „Nur die erste, nahezu vollkommene Übersetzung scheint verstanden zu haben, was die letzte Übersetzung zur Gänze vernichtet (...)“ liegen Welten. Paul Celan als großartiger Übersetzer? Wer würde Bauschulte da nicht beipflichten? Doch scheint eine derart bedingungslose, spärlich motivierte und schwer objektivierbare Huldigung auf den Übersetzer Paul Celan nicht nur verzichtbare Pflichtübung, sie macht auch blind für weiterführende Analysen und verhindert die Arbeit an einer differenzierten und weniger kanon-affizierten Form der Übersetzungsbetrachtung: der einzig zeitgemäßen. Dazu gehört auch, die Versionen der anderen Übersetzer – deren „Vergehen“ es letztlich nur ist, anderen selektiven Methoden zu folgen und andere Prioritäten zu setzen – ohne weitere Umschweife als „vollkommenen unangebracht“ abzukanzeln. Was aber soll daran unangebracht sein, ein konditionales „si“ (von der „in ihrer Nuance glühende(n), initiierende(n) Bedeutung der zwei Buchstaben s und i, der französischen Konjunktion ‚si’“, spricht Bauschulte) mit „wenn“ zu übersetzen? Es ist eine Variante unter vielen, vielleicht nicht die beste, doch zu respektieren ist sie allemal. Celans „So fern wir wohnen im Blitz“ setzt auf Buchstäblichkeit, andere Übersetzer sind andere Wege gegangen.
Nicht fehlen durfte, neben Paul Celan, der zweite Säulenheilige des gegenwärtigen Übersetzungsdiskurses: Walter Benjamin. Am explizitesten auf ihn beruft sich Maurice Blanchots 1971 entstandener und für Abrasch von Alma Vallazza ins Deutsche gebrachter Aufsatz „Übersetzen“, ein Text, der den Erkundungen des Vor-Denkers nichts Wesentliches hinzufügt, aber sie „liebend“ sich anzubilden weiß, dem Denkgebäude Walter Benjamins inhaltlich wie stilistisch verpflichtet. Mit großer Bestimmtheit kritisiert Blanchot die banale, die poetologische Bedeutung der Übersetzung als Sprach-Bewegung (Friedmar Apel) verkennende Rezeption, die die Textsorte „Übersetzung“ damals wie heute erfährt. Zum Lob einer Übersetzung gehöre, so Blanchot, oft die Verleugnung der Übersetzung als solche auf der einen Seite (“man könne gar nicht glauben, daß es eine Übersetzung sei, sagt man“), und das Staunen über die geglückte Angleichung, ja Identität der Übersetzung in bezug auf die Vorlage auf der anderen. Blanchot deckt den Widerspruch innerhalb des Zuspruchs auf, entlarvt hinter dem Lob das Klischee: „im ersten Fall verleugnet man zu Gunsten der neuen Sprache den Ursprung des Werkes; im zweiten Fall, zu Gunsten des Werkes, die Originalität beider Sprachen“. Und beide Male, so könnte man hinzufügen, leugnet man die Präsenz des Übersetzers. Woran wiederum, ein gutes Dutzend Seiten weiter hinten, die Beobachtung Michael Donhausers anschließt, die in der Praxis genau das verwirklicht, worauf Blanchots theoretische Betrachtung vorausweist: nämlich die Valorisierung der Übersetzung über den Umweg ihrer Leugnung als Übersetzung zu erreichen: Aufrechterhaltung der Illusion, nicht Illusionsdurchbrechung; Triumph der Unsichtbarkeit, Illusion von Originalität. Das höchste Lob erhält der Übersetzende da, wo er (sie) am wenigsten präsent ist: als höchste Gabe gilt die Selbstaufgabe.
Was dem Abrasch die Abweichung, das ist der Übersetzungsbetrachtung nach Walter Benjamin die Differenz: Die Aufgabe des Übersetzers, so der Tenor, sei nicht die Neutralisierung der Differenz zwischen Original und Übersetzung, sondern eben jene ihrer Sichtbarmachung. Zudem impliziert die hier gemeinte Differenz den Begriff der „différance“ Jacques Derridas, wo sie zugleich Aufschub und Verschiedenheit beinhaltet. Auch Blanchot nimmt, in dekonstruktivistischer Manier, die Differenz bereits als Wesensmerkmal des „Originals“ an: „Sei es, weil es von sich aus auf eine andere Sprache verweist, sei es, weil es in vorzüglicher Weise die Möglichkeiten bündelt, anders als es selbst und sich selbst gegenüber fremd zu sein, wozu jede lebendige Sprache befähigt ist.“1 Wo die Übersetzbarkeit an ihre Grenzen stößt, da wird Erkenntnis durch Überschreitung möglich; indem die Übersetzung durch ein Anderes hindurchgehen muß, wird sie zum Vehikel des Werdens von Sprache und Literatur schlechthin. Die Übersetzung, so Blanchot, „übersetzt’ und vollendet“ dieses Werden, ist Übersetzung einer Übersetzung. („Werdende Kunstgattung“ in der Terminologie der Romantiker.) So schreibt sich die Bewegung der Übersetzung in jene des Originals ein, so fordert das Original die Übersetzung im Hinblick auf sein eigenes „Fortleben“ heraus.
„Fortleben“ des Kunstwerks, Messianismus, Streben nach der „letzten“, „höheren“ Sprache: Hier bleibt Blanchot in Thematik und Diktion ganz der Theorie Walter Benjamins verhaftet. Anders, ja konkreter und mitunter radikaler nehmen sich indes seine Entwürfe aus, wenn er die „Originalität“ des Übersetzers als „der heimlichste unter den Schriftstellern“ beschwört oder die Aufgabe des Übersetzers als Befreiung des Fremden im Gewohnten, des Entlehnten im „Ursprünglichen“ beschreibt. Daß in einer solchen Argumentation auch die Gefahr des Hinabstürzens in den „Abgrund zwischen den Sprachen“ nicht fehlen darf (der „Fall“ Hölderlin muß dabei notorisch als Beispiel herhalten), verwundert nicht. Zur Frage steht aber darüber hinaus die Verkleidungskunst der Sprachen, ihre „Gabe“, aus sich hinauszugehen und andere zu werden, und dies sogar in einem Grad, der die Übersetzung letztlich überflüssig machen würde: „Erhellung“ durch „Verschiebung“, „Transparenz“ durch Differenz. Derlei theoretische Exkurse strapazieren den Abstraktionsgrad mitunter auf eine Weise, die eine Übertragung auf praktische Zusammenhänge ausschließt oder zumindest ausschließen sollte. Zwar läßt sich einräumen, daß in der äußersten Nicht-Übereinstimmung (Differenz) auch eine äußerste Übereinstimmung (Harmonie) faßbar werden kann, doch sollte man sich hüten, Sätze wie „Will man, daß das übersetzte Werk dem zu übersetzenden ähnelt, verhindert man die Möglichkeit einer literarischen Übersetzung“ wörtlich zu nehmen. Sie müssen vor den Kopf stoßen, selbst da, wo man sie vor dem Hintergrund des Übersetzungsdenkens Walter Benjamins einerseits, sowie einer dekonstruktivistischen, synkretistischen Übersetzungsauffassung andererseits zu lesen bereit ist: d.h. eines Sprachdenkens, das die Sprache als Intertext und differentielle Ordnung verstehen will und die Einsprachigkeit der Einzelsprachen negiert. Der Übersetzungspraktiker indes wird mehr Kompromißbereitschaft an den Tag legen müssen und sich, wie schon Roman Jakobson propagierte, um ein Höchstmaß an Äquivalenz in der Differenz’ bemühen.


Fremdschreiben, Brücken bauen
An der Schnittstelle zwischen Übersetzungsbetrachtung, existentieller Übersetzungs-Erfahrung und origineller Rezeption poststrukturalistischer Inhalte bewegt sich - beinahe schon ein Klassiker - Yoko Tawadas „Das Tor des Übersetzers oder Celan liest Japanisch“. Daß Sprachen transparent werden können füreinander, daß die poetische Rede a priori als Fremdsprache besteht, daß nicht bloß der Übersetzer auf einen Dichter reagiert, sondern bereits der Dichtung eine Übersetzung eingeschrieben ist, das sind auch die Prämissen für Tawadas Reflexionen zur Übersetzung. Fragen der Übersetzbarkeit sowie der Präsenz von übersetzerischen Verfahren in Primärtexten erörtert Tawada unter poetologischen wie lebensweltlichen Voraussetzungen. Gedichte, die in andere Sprachen „hineinblicken“, was macht sie aus? Kein Zufall, daß auch Tawada das Werk Paul Celans zum Gegenstand ihrer Betrachtungen erkoren hat, und daraus signifikanterweise seinen Gedichtband „Von Schwelle zu Schwelle“, den offensten, wenn man ihr folgen will: „Ich fing an, Celans Gedichte wie Tore zu betrachten (...)“. Tore, die fremdes Wort- und Gedankengut passieren lassen und die, wie Benjamins „Arkaden“, der Königsweg zu einer höheren Wörtlichkeit sind.
Die Betrachtungen zur Wörtlichkeit stehen hier im Zeichen der Interaktion zweier, nach landläufiger Meinung, höchst unterschiedlicher Sprachen: Celan liest japanisch, das will meinen, Celan schreibt wie einer, der japanisch gelesen hat, der sich die Funktionsweisen, Strukturmuster sowie die Art der Welterfassung durch das Japanische auf rätselhafte Weise zueigen gemacht hat. Ebenso Yoko Tawada kommt um die Abgrund-, die Schiffbruchmetaphorik nicht herum, verfolgt diese aber gleichsam aus der Sicht der Wörter: „Es muß zwischen den Sprachen eine Kluft geben, in die alle Wörter hineinstürzen“. Erfrischenderweise hält Tawada Celans Literatur für höchst „übersetzbar“, zumal ins Japanische, und macht diese Übersetzbarkeit an der Frequenz des Radikals „Tor“ in der japanischen Übersetzung fest: „Es kann kein Zufall sein“. Kein Zufall und doch keine Absicht, denn: „Es ist nicht möglich, daß Celan heimlich japanisch gelernt und mit Absicht so gedichtet hat, daß in der japanischen Übersetzung das Radikal ‚Tor’ zu einem Schlüsselzeichen wird“. Ein Wunder also? Nein: denn: „Der Dichter muß den Blick der Übersetzung, der aus der Zukunft auf den Originaltext geworfen wird, gespürt haben (...) Es muß eine Fähigkeit geben, beim Schreiben ein oder mehrere fremde Denksysteme (...), die außerhalb der konkret verwendeten Sprache liegen, zu sich zu rufen und im Text präsent zu machen.“ Das öffnet Tür und Tor zu weiteren Fragen: Braucht der Autor, um zu schreiben, die Übersetzerin, den Übersetzer? Wer schreibt wen, wer spricht und mit wessen Stimme? Die Übersetzung als Werk strahlt auf das Werk zurück und hat ihrerseits eine Ausstrahlung auf andere Werke in der Zielsprache, bestehende und kommende. Für Tawada ist sie Erweckerin des Gedichts, der Autor ist auf die Übersetzung angewiesen, er wartet „auf das Licht der Übersetzung“. Hier bleibt Tawada ganz im Begriffsrahmen der benjamin’schen Übersetzungstheorie, verleiht diesem jedoch eine ungleich persönlichere Färbung: „Es ist eine schöne Vorstellung, daß etwas durch die Übersetzung erwachen kann. Bis der Übersetzer (Ferge) gefunden wird, steht der Autor orientierungslos, einsam und unsicher da.“ Das Original wird vollendet erst durch seine hypothetische Übersetzung, während die tatsächliche Übersetzung seine neue Verkörperung ist. Die Übersetzung erscheint so als Motor, Bedingung für Dichtung; Dichtung als ein Schreiben, das seine möglichen Übersetzungen mitführt, sie wechselnd aktualisiert. Benjamins Topos vom Fortleben des Originals in der Übersetzung bereichert Yoko Tawada um das Eingreifen der hypothetischen Übersetzung in das Original zum Zeitpunkt seines Entstehens und schließt so zum einen an Jacques Derrida an, der, gleichfalls im Gefolge Benjamins, die Übersetzung nicht als aus dem Original abgeleitete annimmt, sondern – im Rahmen eines Paktes des Originals mit seinen späteren Übersetzungen, dem sogenannten „Übersetzungs-Vertrag“ – auch das Original in der Schuld der Übersetzung sieht (jener, die kommen wird), zum anderen an Hans-Jost Freys Modell der „reziproken Textbeziehung“, die eine Bewegung in beide Richtungen vorsieht. Für Derrida sind am Prozeß der Übersetzung, und dies gilt vor allem, doch nicht ausschließlich für extrem polyphone Werke vom Schlage eines Finnegans Wake, stets mehr als zwei Sprachen beteiligt. Und auch Tawada versucht, in Originaltexten nicht das Einsprachige, das „typisch Deutsche“ zu suchen, sondern das mit „Konstellationen fremder Sprachen und Denkweisen korrespondierende“. So beeinflußt die Übersetzung bereits das Schreiben an sich, als Chiffre der Verwandlung, Motor der Entfremdung, sukzessives Sich-Entfernen von der vertrauten Sprache. Hier läßt sich von Tawadas Argumentation weiter ein Bogen zu Gilles Deleuze’ („Kritik und Klinik“) spannen, der das Vorhandeinsein einer, in der eigenen Sprache verborgenen, Fremdsprache als Erkennungszeichen des Literarischen imaginiert. (Die deterritorialisierte Walsprache, das „Outlandish“ bei Moby Dick.) Das letzte Wort bei Gilles Deleuze hat Marcel Proust, der in seiner Recherche zu dem Schluß kommt: „Les beaux livres sont toujours écrits dans une langue étrangère.“ – Die schönen Bücher sind immer in einer Fremdsprache geschrieben, sind immer ein wenig Übersetzungen, Besetzungen fremden Terrains: Schreiben ist immer ein wenig Übersetzen.
Zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt auch Michael Hammerschmid („Vom Gewicht der Worte beim Übersetzen“), der es schafft, der ausgereizten Wortspielkette rund um das Über Setzen noch einmal ganz neue Töne abzugewinnen. Hammerschmid gesteht den Worten (aber müßten es nicht „Wörter“ sein: die zusammenhanglosen, die sich zu Sätzen erst fügen müssen?) eine Seele, ein Eigenleben zu und nimmt dabei, wie schon Yoko Tawada, vom materiellen Sosein des Einzelwortes seinen Ausgang: als Frachtgut ungewisser Bestimmung. Es ist diese Phase des Übergangs, in dem das zu übersetzende Wort noch nicht zwischen Buchtitel gebannt ist, sondern gleichsam in Freiheit „lebt“, die breiten Raum bietet für allerlei Spekulationen. Gibt es, über den Kopf des Übersetzers, der Übersetzerin hinweg, ein stilles Einverständnis der Wörter untereinander? Bei Hammerschmid erscheinen die Wörter stark personifiziert und vor allem auf ihre Substanz hin befragt und gewichtet. Eine Substanz, die zu berühren und zu überführen den Übersetzenden obliegt: Zwischen zwei Sprachen und Kulturen oszillierend, Grenzen aufzeigend, an einer Grenze entlangschreibend, machen sie Grenzen (der Zielsprache, der Übersetzbarkeit) sichtbar: als „Grenzmenschen und Menschengrenzen“.
Viele Variationen auf ein Thema also, das sich, in etymologischer und morphologischer Auffächerung und Abwandlung, beinahe unbegrenzt fortspinnen ließe: Da geht es um das Tragen, Ertragen, Hinübertragen, Austragen, Eintragen, vielleicht Abtragen auch, um das „unerträglich Unübertragbare“, um Übersetzungen, die sich erst „setzen“ müssen, um das Wägen und das Wagnis und – notgedrungen – um den Abgrund, der sowohl die nicht (über)tragbaren Wörter als auch das übersetzende Subjekt bedroht. Dazu paßt das Bild vom Übersetzen als Über-Brücken mit dem obligatorischen Hinweis auf die sich daraus ergebende Gefährdung: „Jede Übersetzung hat etwas abgründiges (sic), vielleicht so wie das Brückenbauen.“ Das Dazwischen, der Abgrund, das Über-Setzen, der Fergendienst, der drohende Schiffbruch: Die Abgrundmetaphorik dominiert das Feld, neue, originelle Metaphern zum Übersetzen sind rar.
Fündig wird man auch bei diesem Autor in Hinblick auf eine breite, Original-Werke aus dem Zyklus des Übersetzens und Übersetzt-Werdens nicht ausnehmende Übersetzungs-Konzeption. So heißt die zielsprach-bewegende (modifizierende) Kraft der Übersetzung bei Hammerschmid „wiederholende Belebung der Sprache“, und das Übersetzen wird nicht als das Produzieren einer notwendig unzulänglichen Zweitschrift, sondern als produktive Relektüre, Weiterschrift und Neuschrift verstanden. Ihr zugrunde liegt ein Schaffensprozeß, der nicht ohne Usurpation abgeht, ja man kann ihn auch als einen Grenzhandel denken: als „Raub, der bereichert“. Ein Raub, der bereichert: Damit wäre dem „Verzicht, der gelingt“ bzw. dem „Verlust, dem man zustimmen muß“ (Glissant) eine dritte Antithese an die Seite gestellt.
Ausgehend von den dynamischen und dialektischen Zirkeln des Lesens-Schreibens-Übersetzens, hinterfragt Hammerschmid Wechselwirkungen zwischen Übersetzen und Exzerpieren und macht sich, wie die Beiträger vor und nach ihm, Gedanken über „das Fortleben“ der Kunstwerke durch und in der Übersetzung. Yoko Tawadas Vermutung, daß der Text auf seine Übersetzung angewiesen sei, ergänzt Hammerschmid um jene, daß der Text seinen Übersetzer, seine Übersetzerin generiert: „In diesem Sinne ist die Übersetzung Produkt des Gedichts, ja vielleicht sind die Übersetzer sogar Erfindungen der Gedichte“. Und die Prosa-Übersetzer? Gibt es sie etwa gar nicht? Die Tendenz zur „metaphysischen“, dem Ausloten der Wortfelder rund um das Über Setzen verhafteten Übersetzungsbetrachtung führt zu Hypothesen, denen man, bei aller Findigkeit und etymologischen Hintersinnigkeit, doch nicht immer widerspruchslos folgen möchte.
Der behutsame Gestus, der Hang zur Verallgemeinerung und diffusen Begriffsführung verleihen diesem Text seinen Zauber - den Zauber des Uneindeutigen - doch sie nehmen ihm auch ein wenig von seiner Glaubwürdigkeit. Warum sollte, analog zu Benjamins Begriff der „reine(n) Sprache“ als übergeordnete, end-gültige Sprache, die zwischensprachliche Grenzen aufhebt, die „reine Übersetzung“ ein „reines Dazwischen“ sein? (Hybridität als Reinheit? „Rein“, also unkontaminiert? Wodurch?) Und das „reine Dazwischen“, wo sollte man es ansiedeln: zwischen Ziel- und Ausgangssprache? Autor und Übersetzer? Gebender und aufnehmender Kultur? Chronologischen, sprachlichen oder geographischen Differenzen und Divergenzen? Und ist es wirklich so, daß „jedes übersetzte Wort gewinnt“? Hammerschmid nimmt die ÜbersetzerInnen in Schutz, mitunter mehr als ihnen vielleicht lieb wäre. Und auch bei ihm überwiegt die Rede von der „magische(n) Praxis des Übersetzens“, vom Wunderbaren des Transfers mit seinen inkommensurablen Transformations-Momenten, wo metaphorisches Nachzeichnen mitunter in emphatische Überhöhung mündet.
Das Übersetzen erscheint in dieser Darstellung als Lebensform, die Person des Übersetzenden indes mitunter geradezu als Spielball der Launen sich verselbstständigender Sprachen. Hatte Jirí Lev_ vor einigen Jahrzehnten versucht, die Übersetzung als Entscheidungsprozeß bis zur Stimmigkeit zu charakterisieren bei dem der Übersetzer das Sagen hat, so geht Hammerschmid von einer Entscheidungsgewalt aus, die sich nicht zuletzt gegen den Übersetzenden wenden kann, der nicht mehr Entscheidungen fällt, sondern selbst, eingespannt zwischen Wörter, die als Zugkräfte fungieren, in die Gewalt von Entscheidungen gerät: „Existentiell entschieden wird aber nur, wo es um die eigene Haut geht. Übersetzende gleichen einer solchen Haut, an der sich die Sprachen berühren, einander anziehen oder auch abstoßen. An dieser Sprachmembran erscheint ihre Schrift, die Übersetzung, denn erst bei der Berührung schreiben die Sprachen ineinander, dort wo die innigen Gefühle entstehen können.“ „Innig“, das ist auch ein Wort, das diesen Text charakterisieren könnte. Hammerschmids Wortteppich ist der am losesten geknüpfte, der fliegendste, wenn man so will, ein schwärmerischer Schwebegesang, dem es weniger um konturierte Übersetzungsansätze als um, mit leichter Feder gezogene, Annäherungen an das Übersetzen geht. Gedicht-Gedichte
Insofern ist der Text charakteristisch für seinen Kontext: Abrasch O enthält keine Manifeste und keine Standortbestimmungen, es bezieht nicht Position, aber es zieht, so könnte man sagen, Positionen an. (Doch freilich: eine kleine programmatische Einleitung wäre begrüßenswert gewesen.) Es ist eine Collage geworden, ein Sammelsurium, ein flüchtiges Neben- und Gegeneinander der Stimmen im Sinne einer Poetik der poetischen Übersetzung. Die Herausgeberin als Moderatorin (Übersetzerin) übersetzt und vermittelt zwischen ihnen, ja scheint selbst als Übersetzerin auf: Da ist Édouard Glissants Charakterisierung des Übersetzens als „Denken in Ausweichbewegungen“, als Spurensuche hinein in ein Ungewisses (eine „Goldgräbertätigkeit“ hat Ulrike Draesner das Übersetzen einmal genannt), in seiner Dialektik von Sammeln und Zerstreuen, Berührung und Annäherung, Verzicht und Gelingen (Glissant), Verlust und Gewinn. Da ist Oskar Pastiors Bekenntnis (oder Aufforderung?) zum „anstößigen“, vielleicht auch anstoßerregenden Übersetzen von Denkanstößen, da ist das Foto der Abbadia de Santo Domingo de Silos mit ihrem mysteriösen Säulengang: Wie kommt es, daß da eine Säule aus der Reihe fällt, zwei wird, und in dieser Zweiheit, in dieser Zwiespältigkeit, gekreuzt erscheint? Es ist das Gleich-Gestrickte, das aus der Ordnung ausbricht und ihr doch, auf verquere Weise, gehorcht, die Differenz, die sofort ins Auge sticht und das Auge besticht durch ihre Besonderheit. Doch auch ein Exorzißmusritual könnte es sein, wie die gekreuzten Finger beim falschen Schwur, wie die absichtliche Abweichung des Abrasch zum Schutz vor Geistern. Die Übersetzung als „Lügengespinst“, der Übersetzer als der „wahre Lügner“ (Ottmar Ette)? Aus solchem Blickwinkel ließe sich das schalgewordene Diktum vom traduttore-traditore umdeuten zu neuem, weniger geringschätzigem Sinn.
Alma Vallazza lädt ein, die Übersetzung, in Abwandlung eines Titels von Oskar Pastior, als „Gedichtgedicht“ zu denken. Aber während Pastiors Gedichtgedichte tatsächlich hochreflexive Gedichte über Gedichte sind, sind die Gedichte, die hier Gedichtgedichte heißen, Übersetzungen. Übersetzungen ein und desselben Gedichts in mehrere Sprachen, die angetan sein sollen, ein Schlaglicht zu werfen auf jene Autoren, die die Reihe in diesem Jahr eröffnet haben. Fortini übersetzt Frénaud übersetzt... Die solcherart geöffneten, nach Art eines Stille-Post-Spiels sich fortspinnenden Gedicht-Sequenzen, illustrieren Übersetzung als prozessuale, poetologische Erkenntnisform: Gedichte aus Gedichten. Die Moral der Teppiche
Was zeichnet die, nach dem Vor-Bild kanonischer Gemälde angefertigten, Tapisserien gegenüber dem Originalgemälde aus?, fragt Rudolf Kassner in „Die Moral der Teppiche“, dem ältesten und letzten Beitrag des Bandes und beantwortet die Frage auf ebenso klare wie bestechende Weise. Die Teppiche kommen, wie die Übersetzung, nach dem Original, mit dem sie doch unauflöslich verquickt bleiben. Vom Betrachter verlangen sie ein Mehr an Aufmerksamkeit, von ihrem Schöpfer ein Zurücknehmen des eigenen kreativen Impulses zugunsten einer kunstvollen Handwerklichkeit. Im Bestreben, ein Original zu kopieren, schaffen sie eine Künstlichkeit, die so geartet ist, daß das Natürliche in ihr wirklich und wirksam wird: sie sind lebendiger, weil sie erst belebt werden müssen, sie tragen ihre Äußerlichkeit so zur Schau, daß sie für Inneres anfällig wird: „Was da vor mir hängt, (...) ist eigentlich etwas ganz Äußerliches, ist Handwerk, ist nur Bild. Aber gerade darum wirkt es auf viele geistiger, gerade darum scheint es zuweilen, als wäre es von selber da wie Traumbilder und sähe aus weiter Ferne auf uns.“2
Die These von einem Mehr an Geistigkeit, Suggestivität des Teppichs gegenüber dem „Original“-Bild erweitert Kassner um die Analogie zu Marionetten (Puppen) gegenüber dem „Original“ Schauspieler. In beiden Fällen scheint die nachschaffende, nachahmende Kunst die reflexivere zu sein: Ihre entrealisierte, allegorisierte Präsenz garantiert Faszination durch Entrückung, Fremdheit, die auf ein Eigentliches verweist. Es ist die Dialektik von Ferne und Nähe, Finden und Erfinden, Außen und Innen, die hier, in schlichter doch schillernder Sprache, vor dem Auge des Lesers ausgefaltet wird. Da ist nichts verschwommen oder verklausuliert, da werden, ohne das Wort nur ein einziges Mal im Munde zu führen, wesentliche Dinge zum Problem der „Übersetzung“ benannt. So bildet der Beitrag Kassners, des Benjamin-Zeitgenossen, auch das notwendige stilistische Gegengewicht zu jener, mit dem Esoterischen spielenden, Tiefgründelei, an der – bei Nicht-Heranreichen eher peinlich als inspirierend – ein Gutteil der Übersetzungsbetrachtung nach Walter Benjamin laboriert. So unangestrengt und unpathetisch, so unparteiisch und vorurteilsfrei, so schlicht und zugleich so geheimnisvoll läßt sich (auch) über Übersetzung schreiben. Aus allen vorangegangenen, in diesem ersten Abrasch Begleitband versammelten Aufsätzen zieht „Die Moral der Teppiche“ die erstaunliche Bilanz.

abrasch Begleitband 2002: abrasch. Eine Sammlung für Poesie als Übersetzung
hrsg. von alma vallazza

Anmerkungen:

1) „Eben darum muß sie [die Übersetzung, Anm.] von der Absicht, etwas mitzuteilen, vom Sinn in sehr hohem Maße absehen, und das Original ist ihr in diesem nur insofern wesentlich, als es der Mühe und Ordnung des Mitzuteilenden den Übersetzer und sein Werk schon enthoben hat.“
2) Brigitte Oleschinski: „Mental Heat Control. Über den Impuls zu Gedichten.“ In: Zwischen den Zeilen 2. Winterthur 1998*, S. 108.

edition per procura, Wien 2003, 76 Seiten, 11 x 17 cm, broschiert, € 5,50