„Dichterisches Reden ist ein Teppichgewebe mit einer Vielzahl von
textilen Grundstoffen, welche sich voneinander lediglich durch die Farbgebung
bei der Ausführung unterscheiden...“
Ossip Mandelstam, Gespräch über Dante
„Die Gewebe begünstigen ihrem Wesen nach die Täuschung;
man spricht nicht umsonst vom Lügengewebe, vom Lügennetz, vom Lügengespinst.
Daher muß das Gesponnene mit Überredung verkauft werden [...]“
Ernst Jünger, Das abenteuerliche Herz; In den Kaufläden, 2 (Goslar)
Fremdschreiben, Brücken bauen
An der Schnittstelle zwischen Übersetzungsbetrachtung, existentieller Übersetzungs-Erfahrung
und origineller Rezeption poststrukturalistischer Inhalte bewegt sich - beinahe
schon ein Klassiker - Yoko Tawadas „Das Tor des Übersetzers oder
Celan liest Japanisch“. Daß Sprachen transparent werden können
füreinander, daß die poetische Rede a priori als Fremdsprache besteht,
daß nicht bloß der Übersetzer auf einen Dichter reagiert, sondern
bereits der Dichtung eine Übersetzung eingeschrieben ist, das sind auch
die Prämissen für Tawadas Reflexionen zur Übersetzung. Fragen
der Übersetzbarkeit sowie der Präsenz von übersetzerischen Verfahren
in Primärtexten erörtert Tawada unter poetologischen wie lebensweltlichen
Voraussetzungen. Gedichte, die in andere Sprachen „hineinblicken“,
was macht sie aus? Kein Zufall, daß auch Tawada das Werk Paul Celans zum
Gegenstand ihrer Betrachtungen erkoren hat, und daraus signifikanterweise seinen
Gedichtband „Von Schwelle zu Schwelle“, den offensten, wenn man
ihr folgen will: „Ich fing an, Celans Gedichte wie Tore zu betrachten
(...)“. Tore, die fremdes Wort- und Gedankengut passieren lassen und die,
wie Benjamins „Arkaden“, der Königsweg zu einer höheren
Wörtlichkeit sind.
Die Betrachtungen zur Wörtlichkeit stehen hier im Zeichen der Interaktion
zweier, nach landläufiger Meinung, höchst unterschiedlicher Sprachen:
Celan liest japanisch, das will meinen, Celan schreibt wie einer, der japanisch
gelesen hat, der sich die Funktionsweisen, Strukturmuster sowie die Art der
Welterfassung durch das Japanische auf rätselhafte Weise zueigen gemacht
hat. Ebenso Yoko Tawada kommt um die Abgrund-, die Schiffbruchmetaphorik nicht
herum, verfolgt diese aber gleichsam aus der Sicht der Wörter: „Es
muß zwischen den Sprachen eine Kluft geben, in die alle Wörter hineinstürzen“.
Erfrischenderweise hält Tawada Celans Literatur für höchst „übersetzbar“,
zumal ins Japanische, und macht diese Übersetzbarkeit an der Frequenz des
Radikals „Tor“ in der japanischen Übersetzung fest: „Es
kann kein Zufall sein“. Kein Zufall und doch keine Absicht, denn: „Es
ist nicht möglich, daß Celan heimlich japanisch gelernt und mit Absicht
so gedichtet hat, daß in der japanischen Übersetzung das Radikal
‚Tor’ zu einem Schlüsselzeichen wird“. Ein Wunder also?
Nein: denn: „Der Dichter muß den Blick der Übersetzung, der
aus der Zukunft auf den Originaltext geworfen wird, gespürt haben (...)
Es muß eine Fähigkeit geben, beim Schreiben ein oder mehrere fremde
Denksysteme (...), die außerhalb der konkret verwendeten Sprache liegen,
zu sich zu rufen und im Text präsent zu machen.“ Das öffnet
Tür und Tor zu weiteren Fragen: Braucht der Autor, um zu schreiben, die
Übersetzerin, den Übersetzer? Wer schreibt wen, wer spricht und mit
wessen Stimme? Die Übersetzung als Werk strahlt auf das Werk zurück
und hat ihrerseits eine Ausstrahlung auf andere Werke in der Zielsprache, bestehende
und kommende. Für Tawada ist sie Erweckerin des Gedichts, der Autor ist
auf die Übersetzung angewiesen, er wartet „auf das Licht der Übersetzung“.
Hier bleibt Tawada ganz im Begriffsrahmen der benjamin’schen Übersetzungstheorie,
verleiht diesem jedoch eine ungleich persönlichere Färbung: „Es
ist eine schöne Vorstellung, daß etwas durch die Übersetzung
erwachen kann. Bis der Übersetzer (Ferge) gefunden wird, steht der Autor
orientierungslos, einsam und unsicher da.“ Das Original wird vollendet
erst durch seine hypothetische Übersetzung, während die tatsächliche
Übersetzung seine neue Verkörperung ist. Die Übersetzung erscheint
so als Motor, Bedingung für Dichtung; Dichtung als ein Schreiben, das seine
möglichen Übersetzungen mitführt, sie wechselnd aktualisiert.
Benjamins Topos vom Fortleben des Originals in der Übersetzung bereichert
Yoko Tawada um das Eingreifen der hypothetischen Übersetzung in das Original
zum Zeitpunkt seines Entstehens und schließt so zum einen an Jacques Derrida
an, der, gleichfalls im Gefolge Benjamins, die Übersetzung nicht als aus
dem Original abgeleitete annimmt, sondern – im Rahmen eines Paktes des
Originals mit seinen späteren Übersetzungen, dem sogenannten „Übersetzungs-Vertrag“
– auch das Original in der Schuld der Übersetzung sieht (jener, die
kommen wird), zum anderen an Hans-Jost Freys Modell der „reziproken Textbeziehung“,
die eine Bewegung in beide Richtungen vorsieht. Für Derrida sind am Prozeß
der Übersetzung, und dies gilt vor allem, doch nicht ausschließlich
für extrem polyphone Werke vom Schlage eines Finnegans Wake, stets mehr
als zwei Sprachen beteiligt. Und auch Tawada versucht, in Originaltexten nicht
das Einsprachige, das „typisch Deutsche“ zu suchen, sondern das
mit „Konstellationen fremder Sprachen und Denkweisen korrespondierende“.
So beeinflußt die Übersetzung bereits das Schreiben an sich, als
Chiffre der Verwandlung, Motor der Entfremdung, sukzessives Sich-Entfernen von
der vertrauten Sprache. Hier läßt sich von Tawadas Argumentation
weiter ein Bogen zu Gilles Deleuze’ („Kritik und Klinik“)
spannen, der das Vorhandeinsein einer, in der eigenen Sprache verborgenen, Fremdsprache
als Erkennungszeichen des Literarischen imaginiert. (Die deterritorialisierte
Walsprache, das „Outlandish“ bei Moby Dick.) Das letzte Wort bei
Gilles Deleuze hat Marcel Proust, der in seiner Recherche zu dem Schluß
kommt: „Les beaux livres sont toujours écrits dans une langue étrangère.“
– Die schönen Bücher sind immer in einer Fremdsprache geschrieben,
sind immer ein wenig Übersetzungen, Besetzungen fremden Terrains: Schreiben
ist immer ein wenig Übersetzen.
Zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt auch Michael Hammerschmid („Vom
Gewicht der Worte beim Übersetzen“), der es schafft, der ausgereizten
Wortspielkette rund um das Über Setzen noch einmal ganz neue Töne
abzugewinnen. Hammerschmid gesteht den Worten (aber müßten es nicht
„Wörter“ sein: die zusammenhanglosen, die sich zu Sätzen
erst fügen müssen?) eine Seele, ein Eigenleben zu und nimmt dabei,
wie schon Yoko Tawada, vom materiellen Sosein des Einzelwortes seinen Ausgang:
als Frachtgut ungewisser Bestimmung. Es ist diese Phase des Übergangs,
in dem das zu übersetzende Wort noch nicht zwischen Buchtitel gebannt ist,
sondern gleichsam in Freiheit „lebt“, die breiten Raum bietet für
allerlei Spekulationen. Gibt es, über den Kopf des Übersetzers, der
Übersetzerin hinweg, ein stilles Einverständnis der Wörter untereinander?
Bei Hammerschmid erscheinen die Wörter stark personifiziert und vor allem
auf ihre Substanz hin befragt und gewichtet. Eine Substanz, die zu berühren
und zu überführen den Übersetzenden obliegt: Zwischen zwei Sprachen
und Kulturen oszillierend, Grenzen aufzeigend, an einer Grenze entlangschreibend,
machen sie Grenzen (der Zielsprache, der Übersetzbarkeit) sichtbar: als
„Grenzmenschen und Menschengrenzen“.
Viele Variationen auf ein Thema also, das sich, in etymologischer und morphologischer
Auffächerung und Abwandlung, beinahe unbegrenzt fortspinnen ließe:
Da geht es um das Tragen, Ertragen, Hinübertragen, Austragen, Eintragen,
vielleicht Abtragen auch, um das „unerträglich Unübertragbare“,
um Übersetzungen, die sich erst „setzen“ müssen, um das
Wägen und das Wagnis und – notgedrungen – um den Abgrund, der
sowohl die nicht (über)tragbaren Wörter als auch das übersetzende
Subjekt bedroht. Dazu paßt das Bild vom Übersetzen als Über-Brücken
mit dem obligatorischen Hinweis auf die sich daraus ergebende Gefährdung:
„Jede Übersetzung hat etwas abgründiges (sic), vielleicht so
wie das Brückenbauen.“ Das Dazwischen, der Abgrund, das Über-Setzen,
der Fergendienst, der drohende Schiffbruch: Die Abgrundmetaphorik dominiert
das Feld, neue, originelle Metaphern zum Übersetzen sind rar.
Fündig wird man auch bei diesem Autor in Hinblick auf eine breite, Original-Werke
aus dem Zyklus des Übersetzens und Übersetzt-Werdens nicht ausnehmende
Übersetzungs-Konzeption. So heißt die zielsprach-bewegende (modifizierende)
Kraft der Übersetzung bei Hammerschmid „wiederholende Belebung der
Sprache“, und das Übersetzen wird nicht als das Produzieren einer
notwendig unzulänglichen Zweitschrift, sondern als produktive Relektüre,
Weiterschrift und Neuschrift verstanden. Ihr zugrunde liegt ein Schaffensprozeß,
der nicht ohne Usurpation abgeht, ja man kann ihn auch als einen Grenzhandel
denken: als „Raub, der bereichert“. Ein Raub, der bereichert: Damit
wäre dem „Verzicht, der gelingt“ bzw. dem „Verlust, dem
man zustimmen muß“ (Glissant) eine dritte Antithese an die Seite
gestellt.
Ausgehend von den dynamischen und dialektischen Zirkeln des Lesens-Schreibens-Übersetzens,
hinterfragt Hammerschmid Wechselwirkungen zwischen Übersetzen und Exzerpieren
und macht sich, wie die Beiträger vor und nach ihm, Gedanken über
„das Fortleben“ der Kunstwerke durch und in der Übersetzung.
Yoko Tawadas Vermutung, daß der Text auf seine Übersetzung angewiesen
sei, ergänzt Hammerschmid um jene, daß der Text seinen Übersetzer,
seine Übersetzerin generiert: „In diesem Sinne ist die Übersetzung
Produkt des Gedichts, ja vielleicht sind die Übersetzer sogar Erfindungen
der Gedichte“. Und die Prosa-Übersetzer? Gibt es sie etwa gar nicht?
Die Tendenz zur „metaphysischen“, dem Ausloten der Wortfelder rund
um das Über Setzen verhafteten Übersetzungsbetrachtung führt
zu Hypothesen, denen man, bei aller Findigkeit und etymologischen Hintersinnigkeit,
doch nicht immer widerspruchslos folgen möchte.
Der behutsame Gestus, der Hang zur Verallgemeinerung und diffusen Begriffsführung
verleihen diesem Text seinen Zauber - den Zauber des Uneindeutigen - doch sie
nehmen ihm auch ein wenig von seiner Glaubwürdigkeit. Warum sollte, analog
zu Benjamins Begriff der „reine(n) Sprache“ als übergeordnete,
end-gültige Sprache, die zwischensprachliche Grenzen aufhebt, die „reine
Übersetzung“ ein „reines Dazwischen“ sein? (Hybridität
als Reinheit? „Rein“, also unkontaminiert? Wodurch?) Und das „reine
Dazwischen“, wo sollte man es ansiedeln: zwischen Ziel- und Ausgangssprache?
Autor und Übersetzer? Gebender und aufnehmender Kultur? Chronologischen,
sprachlichen oder geographischen Differenzen und Divergenzen? Und ist es wirklich
so, daß „jedes übersetzte Wort gewinnt“? Hammerschmid
nimmt die ÜbersetzerInnen in Schutz, mitunter mehr als ihnen vielleicht
lieb wäre. Und auch bei ihm überwiegt die Rede von der „magische(n)
Praxis des Übersetzens“, vom Wunderbaren des Transfers mit seinen
inkommensurablen Transformations-Momenten, wo metaphorisches Nachzeichnen mitunter
in emphatische Überhöhung mündet.
Das Übersetzen erscheint in dieser Darstellung als Lebensform, die Person
des Übersetzenden indes mitunter geradezu als Spielball der Launen sich
verselbstständigender Sprachen. Hatte Jirí Lev_ vor einigen Jahrzehnten
versucht, die Übersetzung als Entscheidungsprozeß bis zur Stimmigkeit
zu charakterisieren bei dem der Übersetzer das Sagen hat, so geht Hammerschmid
von einer Entscheidungsgewalt aus, die sich nicht zuletzt gegen den Übersetzenden
wenden kann, der nicht mehr Entscheidungen fällt, sondern selbst, eingespannt
zwischen Wörter, die als Zugkräfte fungieren, in die Gewalt von Entscheidungen
gerät: „Existentiell entschieden wird aber nur, wo es um die eigene
Haut geht. Übersetzende gleichen einer solchen Haut, an der sich die Sprachen
berühren, einander anziehen oder auch abstoßen. An dieser Sprachmembran
erscheint ihre Schrift, die Übersetzung, denn erst bei der Berührung
schreiben die Sprachen ineinander, dort wo die innigen Gefühle entstehen
können.“ „Innig“, das ist auch ein Wort, das diesen Text
charakterisieren könnte. Hammerschmids Wortteppich ist der am losesten
geknüpfte, der fliegendste, wenn man so will, ein schwärmerischer
Schwebegesang, dem es weniger um konturierte Übersetzungsansätze als
um, mit leichter Feder gezogene, Annäherungen an das Übersetzen geht.
Gedicht-Gedichte
Insofern ist der Text charakteristisch für seinen Kontext: Abrasch O enthält
keine Manifeste und keine Standortbestimmungen, es bezieht nicht Position, aber
es zieht, so könnte man sagen, Positionen an. (Doch freilich: eine kleine
programmatische Einleitung wäre begrüßenswert gewesen.) Es ist
eine Collage geworden, ein Sammelsurium, ein flüchtiges Neben- und Gegeneinander
der Stimmen im Sinne einer Poetik der poetischen Übersetzung. Die Herausgeberin
als Moderatorin (Übersetzerin) übersetzt und vermittelt zwischen ihnen,
ja scheint selbst als Übersetzerin auf: Da ist Édouard Glissants
Charakterisierung des Übersetzens als „Denken in Ausweichbewegungen“,
als Spurensuche hinein in ein Ungewisses (eine „Goldgräbertätigkeit“
hat Ulrike Draesner das Übersetzen einmal genannt), in seiner Dialektik
von Sammeln und Zerstreuen, Berührung und Annäherung, Verzicht und
Gelingen (Glissant), Verlust und Gewinn. Da ist Oskar Pastiors Bekenntnis (oder
Aufforderung?) zum „anstößigen“, vielleicht auch anstoßerregenden
Übersetzen von Denkanstößen, da ist das Foto der Abbadia de
Santo Domingo de Silos mit ihrem mysteriösen Säulengang: Wie kommt
es, daß da eine Säule aus der Reihe fällt, zwei wird, und in
dieser Zweiheit, in dieser Zwiespältigkeit, gekreuzt erscheint? Es ist
das Gleich-Gestrickte, das aus der Ordnung ausbricht und ihr doch, auf verquere
Weise, gehorcht, die Differenz, die sofort ins Auge sticht und das Auge besticht
durch ihre Besonderheit. Doch auch ein Exorzißmusritual könnte es
sein, wie die gekreuzten Finger beim falschen Schwur, wie die absichtliche Abweichung
des Abrasch zum Schutz vor Geistern. Die Übersetzung als „Lügengespinst“,
der Übersetzer als der „wahre Lügner“ (Ottmar Ette)? Aus
solchem Blickwinkel ließe sich das schalgewordene Diktum vom traduttore-traditore
umdeuten zu neuem, weniger geringschätzigem Sinn.
Alma Vallazza lädt ein, die Übersetzung, in Abwandlung eines Titels
von Oskar Pastior, als „Gedichtgedicht“ zu denken. Aber während
Pastiors Gedichtgedichte tatsächlich hochreflexive Gedichte über Gedichte
sind, sind die Gedichte, die hier Gedichtgedichte heißen, Übersetzungen.
Übersetzungen ein und desselben Gedichts in mehrere Sprachen, die angetan
sein sollen, ein Schlaglicht zu werfen auf jene Autoren, die die Reihe in diesem
Jahr eröffnet haben. Fortini übersetzt Frénaud übersetzt...
Die solcherart geöffneten, nach Art eines Stille-Post-Spiels sich fortspinnenden
Gedicht-Sequenzen, illustrieren Übersetzung als prozessuale, poetologische
Erkenntnisform: Gedichte aus Gedichten. Die Moral der Teppiche
Was zeichnet die, nach dem Vor-Bild kanonischer Gemälde angefertigten,
Tapisserien gegenüber dem Originalgemälde aus?, fragt Rudolf Kassner
in „Die Moral der Teppiche“, dem ältesten und letzten Beitrag
des Bandes und beantwortet die Frage auf ebenso klare wie bestechende Weise.
Die Teppiche kommen, wie die Übersetzung, nach dem Original, mit dem sie
doch unauflöslich verquickt bleiben. Vom Betrachter verlangen sie ein Mehr
an Aufmerksamkeit, von ihrem Schöpfer ein Zurücknehmen des eigenen
kreativen Impulses zugunsten einer kunstvollen Handwerklichkeit. Im Bestreben,
ein Original zu kopieren, schaffen sie eine Künstlichkeit, die so geartet
ist, daß das Natürliche in ihr wirklich und wirksam wird: sie sind
lebendiger, weil sie erst belebt werden müssen, sie tragen ihre Äußerlichkeit
so zur Schau, daß sie für Inneres anfällig wird: „Was
da vor mir hängt, (...) ist eigentlich etwas ganz Äußerliches,
ist Handwerk, ist nur Bild. Aber gerade darum wirkt es auf viele geistiger,
gerade darum scheint es zuweilen, als wäre es von selber da wie Traumbilder
und sähe aus weiter Ferne auf uns.“2
Die These von einem Mehr an Geistigkeit, Suggestivität des Teppichs gegenüber
dem „Original“-Bild erweitert Kassner um die Analogie zu Marionetten
(Puppen) gegenüber dem „Original“ Schauspieler. In beiden Fällen
scheint die nachschaffende, nachahmende Kunst die reflexivere zu sein: Ihre
entrealisierte, allegorisierte Präsenz garantiert Faszination durch Entrückung,
Fremdheit, die auf ein Eigentliches verweist. Es ist die Dialektik von Ferne
und Nähe, Finden und Erfinden, Außen und Innen, die hier, in schlichter
doch schillernder Sprache, vor dem Auge des Lesers ausgefaltet wird. Da ist
nichts verschwommen oder verklausuliert, da werden, ohne das Wort nur ein einziges
Mal im Munde zu führen, wesentliche Dinge zum Problem der „Übersetzung“
benannt. So bildet der Beitrag Kassners, des Benjamin-Zeitgenossen, auch das
notwendige stilistische Gegengewicht zu jener, mit dem Esoterischen spielenden,
Tiefgründelei, an der – bei Nicht-Heranreichen eher peinlich als
inspirierend – ein Gutteil der Übersetzungsbetrachtung nach Walter
Benjamin laboriert. So unangestrengt und unpathetisch, so unparteiisch und vorurteilsfrei,
so schlicht und zugleich so geheimnisvoll läßt sich (auch) über
Übersetzung schreiben. Aus allen vorangegangenen, in diesem ersten Abrasch
Begleitband versammelten Aufsätzen zieht „Die Moral der Teppiche“
die erstaunliche Bilanz.
abrasch Begleitband 2002: abrasch. Eine Sammlung für Poesie als Übersetzung
hrsg. von alma vallazza
Anmerkungen:
1) „Eben darum muß sie [die Übersetzung, Anm.]
von der Absicht, etwas mitzuteilen, vom Sinn in sehr hohem Maße absehen,
und das Original ist ihr in diesem nur insofern wesentlich, als es der Mühe
und Ordnung des Mitzuteilenden den Übersetzer und sein Werk schon enthoben
hat.“
2) Brigitte Oleschinski: „Mental Heat Control. Über den Impuls zu
Gedichten.“ In: Zwischen den Zeilen 2. Winterthur 1998*, S. 108.
edition per procura, Wien 2003, 76 Seiten, 11 x 17 cm, broschiert, € 5,50