Am 14.02.2018 erschien in der FAZ diese
Rezension der kommentierten Neuausgabe von Ovids Liebeskunst.
In der Besprechung wurde den KommentatorInnen zum Teil schwerwiegende
Vorwürfe gemacht. Da diese von Laien überhaupt nicht beurteilbar
sind, bat lyrikkritik einen der Kommentatoren seine Sicht auf die angesprochenen
Problematiken darzulegen. Hier seine Antwort:
Lieber Hendrik Jackson,
nun komme ich Deiner Bitte um Reaktion zu den Vorwürfen und der Kritik
von Ulf von Rauchhaupt in der FAZ vom 14.02.2018 nach. Ich tue es unwillig,
da ich nicht gerne ein Buch verteidigen möchte, das für sich
selbst stehen kann und ja bereits eine größere Zahl positiver
Reaktionen und Besprechungen erhalten hat. Aber da es hier um ein Forum
für Debatten und offene Diskurse über Dichtung handelt und auch
andere Kolleg*innen wissen wollen, was es mit der Berechtigung der Vorwürfe
auf sich hat, versuche ich auf die spezifischen Einwände gegen unser
Buch in der Hoffnung zu reagieren, dass die Leser*innen sich ihr eigenes
Urteil bilden werden am besten mit dem Buch in der Hand.
Offenkundig hat der Rezensent grundsätzliche Probleme mit drei zusammenhängenden
Fragen des Stils und der Interpretation unserer Ausgabe der Liebeskunst.
Dazu ein paar Überlegungen:
1. Wir haben bewusst keinen strikt akademisch-altphilologischen Kommentar
geschrieben. Vielmehr waren Um- und Nebenwege, Abweichungen und Sprünge
System. Auf inhaltlich springende Dichtung nicht nur linear zu reagieren,
schien uns erkenntnisfördernd. Aber in Rauchhaupts Perspektive stört
offenbar alles jede Anspielung, jeder Sprung durch die Geschichte,
Themen und Genres , was nicht unmittelbar die strenge Ovid-Exegese
betrifft. Für solch eine Erwartung ist unser Buch tatsächlich
nicht geeignet, das hätte der Rezensent schon durch einen kurzen
Blick ins Register bemerken können.
2. Wir haben ab und an (insgesamt aber nur selten) bewusst albern oder
ironisch verfremdend kommentiert, als dosierte Abweichung von ernster
Interpretation, literaturtheoretischer Reflexion und sachlicher Information
(denn auch Ovid bringt mitunter unerwartet burleske und skurrile Bilder).
Man fragt sich, warum Rauchhaupt die klaren Ironiemarker, die das Lektorat
noch einmal hervorgehoben hat, übersieht. Vielleicht, um die Kommentatoren
als Flachwitzerzähler" darstellen zu können. Albernheiten
wie die zitierte zu Pasiphaë können einen stören. Aber
das ist durchaus nicht der Schwerpunkt unserer Kommentarebene.
3. Entscheidend ist nun, dass der Rezensent Ovids Liebeskunst dezidiert
als unpolitisches Buch" verstehen will, jedenfalls kritisiert
er uns, dass wir es nicht so sehen. Er verübelt es den Kommentatoren
offenbar, dass sie in Ovids Plädoyer für Unbeschwertheit und
Freizügigkeit von Frauen und Männern auch eine Kritik an einer
patriarchalisch legitimierten Sexualmoral deutlich zu machen versuchen.
Er plädiert dafür, Ovid nicht als politischen, sondern als bloß
unterhaltsamen Dichter zu nehmen, der nur spielen will. Das kann man machen,
aber genau dann entgeht einem die geschickte Ironie Ovids, die verstellt
zu haben uns der Rezensent vorwirft. Doch auch er liefert keinen hermeneutischen
Rahmen, der zu erkennen erlaubte, wie die Intentionen hier, so meinen
wir, mehrdeutig bleiben, wie sie sich bewusst gegenseitig unterlaufen,
um einerseits quasi tändelnde Erotodidaxe zu liefern, andererseits
römische und griechische Literatur und Philosophie zu kommentieren
und ethisch-politische Spitzen zu formulieren und für eine Lebensform
der Liebe gegen die Normen der militärisch-amtlichen und häuslich-familiären
Lebensform einzutreten. Ovid betont die Erfahrung des Dichters und die
Welthaltigkeit der Dichtung, andererseits aber auch die Distanz von Literatur
und Leben. Er spielt verschiedenen Deutungsmöglichkeiten zu. Diese
Pluralität versuchen wir zu rekonstruieren. Was aber soll ein gegenüber
solch mehrfacher Lesbarkeit nichts als literarisches, bloß unterhaltsames
Spiel sein und welch reduzierter Literaturbegriff verbirgt sich dahinter?
Vielleicht geht es im Kern aber auch um die Kritik an dem, was nach Ovid
für fast 2000 Jahre die europäische Gesellschaft bestimmen wird:
Offenbar stößt sich der Rezensent an unserer Kritik am Patriarchat
des Prinzipats und der nachfolgenden christlichen Jahrtausende. Dabei
betont er auffallend häufig die christlichen Kontexte (die im Ganzen
gesehen eher marginal sind im Kommentar): von der Überschrift (absurd,
wir würden ernsthaft eine Rezeption Ovids durch den Evangelisten
behaupten) über die Beschwerde über den (ironisch kontrastierten)
Exkurs zur christlichen Gnadenlehre, den Hinweis, Tertullian sei kein
Kirchenvater (da hat der Rezensent Recht nach katholischer und auch orthodoxer
Klassifikation, nach der er nicht zu den vier großen Kirchenvätern,
sondern den großen Kirchenschriftstellern gehört; dennoch erwähnen
ihn namhafte Theologen, Altphilologen und Althistoriker als Kirchenvater
und also solcher erscheint er auch in einschlägigen Lexika und Editionen),
bis zur Rede von der bloß als leibfeindlich wahrgenommene[n]
christliche[n] Sexulamoral", die aber tatsächlich dem Leib und
den Sinnen vor allem von Frauen gegenüber feindlich war, und der
abfälligen Bemerkung über die rationale Maßlosigkeit
erotischer Wiederholung, die in unserem Kommentar mit der spirituellen
Tradition der Maßlosigkeit des Liebens beim (echt jetzt:) Kirchenvater
Augustinus verlinkt wird, um ihre religiöse Indienstnahme für
Libidoregulierung zu kritisieren. Zu dieser Haltung passt wohl auch, dass
unsere Kritik am Versagen Europas gegenüber der Situation der Kriegsflüchtlinge
auf Lesbos dem Rezensenten nicht schmeckt.
Richtig bemerkt der Rezensent einen Fehler: Actium liegt nicht in Libyen.
Das ist ärgerlich und wir müssen diesen Patzer auf uns nehmen.
Actium, wo die berühmte Seeschlacht 31 v.Chr. (an der Westküste
Griechenlands am Ambrakischen Golf) stattfand, kommt oft in unserem Buch
vor. An einer Stelle steht die falsche geographische Zuordnung, die leider
wohl durch Überarbeitungen im Kontext entstanden ist, sprechen wir
doch in den folgenden Sätzen von einem anderen Ort im damaligen Libyen
(Libya inferior).
Der Satz mit den zuweilen zerschnittenen Distichen ist nicht immer ideal,
aber die Setzerinnen und Setzer vom Verlag Kiepenheuer & Witsch bzw.
Verlag Galiani Berlin haben fantastische Arbeit geleistet; Tobias Roth,
Melanie Möller und ich sind heilfroh und sehr dankbar, dass sie die
anspruchsvolle Aufgabe mit solch einem schönen Ergebnis gemeistert
haben.
Die Übersetzung: Das ist in der Tat ein Punkt, der uns selbst nicht
sehr freut. Es gab keine zeitliche und finanzielle Möglichkeit, eine
neue Übersetzung anfertigen zu lassen, was wir uns gewünscht
hätten. Zudem wäre es wohl rechtlich unmöglich gewesen,
die von Niklas Holzberg oder Michael von Albrecht zu bekommen. Tatsächlich
ist die Prosaübersetzung von Michael von Albrecht exzellent, die
beste, die es gibt, finde ich. Holzberg ist auch sehr gut, aber der Versbau
ist mitunter problematisch. Albrecht und andere halten die Übersetzung
von Hertzberg/Burger immer noch für die beste Versübersetzung
im Deutschen. Wir haben sie ziemlich überarbeitet, an die aktuelle
kritische Edition des lateinischen Originals (von Edward J. Kenney) angepasst
und, meinen wir, an vielen Stellen stilistisch und semantisch mit Blick
aufs Original verbessert und präzisiert.
Zuletzt noch eine Kritik an den Unterstellungen des Rezensenten:
1. Selbstredend ist es völlig unzutreffend, dass es im Team Korrektur-
oder Kürzungsverbote gegeben hat. Das hat mit der Produktion von
Literatur bzw. Wissenschaft nichts zu tun.
2. Zum Vorwurf, wir würden die Passagen verharmlosen, in der Ovid
von Gewalt an Frauen spricht oder sogar zu ihr rät: Dies sind Passagen,
die scharf kontrastieren mit seinem (allein schon quantitativ prominenteren)
Plädoyer für Freiwilligkeit, Zwanglosigkeit und Gleichberechtigung
im Liebesspiel. Über das Distichon im 3. Buch, das Rauchhaupt erwähnt,
bemerken wir: Wenn Ovid scheibt, dass eine volltrunkene Frau es
verdient (Digna est), Beischlaf (concubitus) im Plural!
zu erleiden (pati), dann klingt das unselig nach dem, was
heute mit dem Begriff rape culture bezeichnet wird. Diese Kultur
patriarchaler Dominanz verkehrt die Schuld, indem sie weiblichen Opfern
sexueller Gewalt eigene Verantwortung etwa durch aufreizende Kleidung
oder Drogenkonsum zuschreibt (victim blaming). Dass Frauen durch
Volltrunkenheit das beschämende Vergehen an ihnen verdienen würden,
muss angesichts Ovids Plädoyers für Gewaltfreiheit (2, V. 180)
irritieren. Wenn er im ersten Buch den Männern rät, sich nicht
zu zimperlich auch gegen das Sträuben der puella Küsse zu nehmen
(V. 664 ff.), kann das an diese Stelle erinnern. Dort wird ausdrücklich
zur Gewalt (vis) mit dem Argument geraten, dass sie der Frau willkommen
sei. Mit diesem Argument wird heute noch gegen den Slogan Nein heißt
Nein angeredet, mit dem Frauen klarmachen, dass sie, nicht ihre Liebhaber,
beurteilen, wann sie sich etwas wünschen und wann nicht. Ovid steht
hier also in einen üblen Verdacht. [...]" Ich halte dieses Distichon
für unsäglich, auch wenn es Ovid wohl um eine Warnung vor Vergewaltigern
gegangen sein mag. Irritierend daran ist, dass Ovid eben nicht ein bloßes
Beispiel eines patriarchalen Autors ist, sondern auch ein Vorkämpfer
für die erotische Selbständigkeit und das Empowerment
von Frauen davon legen schon seine Dichtungen vor der Ars amatoria
Zeugnis ab. Zu sagen, es handle sich an dieser Stelle um eine frivole
Inversion elegischer Gefühle, ist selbst hermeneutisch begründungsbedürftig.
Was ist denn an solch einer Formulierung frivol dass Begehren zu
Angst, Lust zu Scham würde? In der Liebeskunst macht Ovid
die Frauen auch (wie in der Elegie) zu den Regisseurinnen, die
die Männer dirigieren. Das ist insgesamt deutlich dominanter als
die Passagen, die Rauchhaupt herauspickt um am Ende vielleicht
seine Interpretation zu befestigen? Demnach wäre Ovid entweder ausschließlich
ein bloßer intertextueller (An-)Spieler oder aber er wäre doch
moralisch (dann aber richtig!) zu verurteilen. Diese klare Alternative,
die der Rezensent offenbar im Sinn hat, wird von Ovid selbst immer wieder
unterlaufen. Wie, das steht im Kommentar.
3. Der Bezug zur Liebeselegie und anderer Dichtung, insbesondere Vergil,
die Ovid subtil persifliert, kommt bei uns fast auf jeder Seite vor. So
zu tun, als würden wir, um Ovid als politischen Freidenker zu feiern,
seinen Anspielungs- und Überbietungsreichtum übergehen, kann
nicht mit ungenauer Lektüre entschuldigt werden. Das Spiel mit der
Dichtung, das die Ars amatoria spielt ist unser Hauptthema. Gallus,
Tibull, Properz, Horaz, Vergil u.a. sind fast omnipräsent im Kommentar,
erst Recht Ovids Anspielungen auf seine eigenen Dichtungen (und die Referenzen
in seinen späteren Dichtungen auf die Liebeskunst). Auch kein
Wort des Rezensenten zur Rolle des Hellenismus im Text, zur Mythologie,
zur frühgriechischen Lyrik, zu Platon, Aristoteles, der Stoa, zu
Lukrez, Cicero, der Rhetorik, dem Theater, zu den vielen Hinweisen zur
Rezeption Ovids von der Antike bis in die Gegenwart. Das kann einem alles
zu viel sein. Das könnte aber auch Leser*innen bereichern.
Asmus Trautsch
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