Europas trübe Wasser
Der litauische Dichter Eugenijus Alisanka
Litauen ist nicht das erste Land, das stolz als Heimstatt der Dichter bezeichnet
worden ist, und zumindest die Iren dürften dem Baltenstaat den Ruf, die
europäische Region mit dem höchsten Dichtervorkommen zu sein, streitig
machen wollen. Doch wer einen Blick auf die in Vilnius erscheinenden Zeitschriften
und Anthologien wirft, wird staunen angesichts der Fülle lyrischer, gerade
auch jüngerer lyrischer Stimmen. Einen Einblick bekommt auch, wer sich
ins legendäre Trecias Brolis, den Dritten Bruder, verirrt,
jene Kneipe, die sich hinter Hauptpostamt und Gediminas Prospekt verbirgt, hinter
der Fassade eines vom litauischen Schriftstellerverband genutzten neobarocken
Palais: Wer miterlebt, wie hier zwischen nikotindurchwirkten Tapeten debattiert
und parliert, wie zu improvisierter Klavier- und Klarinettenmusik auf den Tischen
gewalzt wird und man sich ohne Groll und gutgelaunt durchs Mobiliar prügelt,
wie schließlich morgens Hauptstadtautoren und Hinterwäldler halbnackt
und armdrückend auf dem Fußboden liegen, wird an der überschäumenden
Lebendigkeit der Lyrikszene von Vilnius nicht länger zweifeln.
Nur wenige dieser Dichter sind – dank der Zeitschrift Die Horen,
dank des Athena-Verlags – auch einem hiesigen Publikum bekannt geworden.
Zu denen aber, auf die man immer wieder stößt, gehört neben
Tomas Venclova, dem weltweit bekanntesten litauischen Poeten, auch Eugenijus
Alisanka, der zugleich, früher als Organisator des Lyrikfestivals „Frühling
der Poesie“, heute als Chefredakteur der englischsprachigen Literaturzeitschrift
The Vilnius Review, zu den emsigsten Botschaftern litauischer Lyrik
gehört. Mit dem eigenen Werk ist Alisanka schon seit geraumer Zeit im deutschsprachigen
Raum präsent – spätestens seit seiner Teilnahme am „Literaturexpress“,
der Poeten aller Herren Länder via Schienenstrang quer über den Kontinent
schickte. Frucht dieser Strapaze war ein Zyklus, der unter dem Titel aus
zuggeschichten in seine vierte, nun geschlossen in der Übersetzung
Klaus Berthels vorliegende Lyriksammlung fand. ich würde ein gedicht
verkaufen mit sämtlichen ersatzteilen/ europas älteste sprache wenig
getragen/ einen frack des autors second hand/ die taschen voller tabakkrümel,
bescheinigt sich der Dichter da in dem Gedicht marché de la poésie
und kehrt am Schluß, nach beendeter Transaktion, zurück in den
wald. Dies ist mit einem Augenzwinkern geschrieben und zu lesen, doch Alisanka
beschäftigt die Frage nach der Rolle des litauischen Lyrikers im erweiterten
Europa:
„Litauen“, schrieb er kurz vor dem entscheidenden ersten Mai, „hat
mit dem EU-Beitritt eine strategische Entscheidung getroffen – die einer
konsequenten Westbindung. Das Land war mental und kulturell stets ein Teil Europas,
nur wurde häufig die Entfaltung dieses Potenzials gebremst, auch gewaltsam
unterdrückt. Der Eintritt in die EU hat daher auch etwas mit Rückkehr
zu tun – in die eigene Referenzgruppe, wie die Psychologen sagen würden.“
Daß diese Umbruchsituation, die Alisanka beschreibt, sich auch in der
litauischen Lyrik manifestiert, ist selbstverständlich, daß sie hier
schon lange vor dem EU-Beitritt, nämlich mit der Unabhängigkeit vierzehn
Jahre zuvor beschäftigen mußte, mehr als wahrscheinlich. Wenn im
Zusammenhang mit Alisankas Lyrik in Litauen schnell zu dem Beiwort „intellektuell“
gegriffen wird, läßt das darauf schließen, daß Alisanka
sich rascher und mit größerer Neugier vom gewohnten Lyrikverständnis
löste und einen erweiterten kulturellen Raum zu erforschen begann –
in Gedichten von großer gedanklicher wie bildlicher Brillianz, auch oder
gerade weil, wie er schreibt, die wasser wie überall in europa/ ein
wenig trübe sind, das eigene bild auf dem grund nicht zu sehen.
Alisanka behält sich vor, den Begriff Tradition individuell zu definieren
und moderiert ein vielstimmiges Gespräch innerhalb der wieder nutzbaren
eigenen Referenzgruppe. Litauische und europäische Zeitgenossen wie Tomas
Salamun und Zbigniew Herbert, dessen Gedichte er auch übersetzte, ja die
gesamte Literaturgeschichte, Autoren wie ihre Geschöpfe, finden so auf
unorthodoxe Weise Einlaß in die Gedichte: meine freunde sind alt geworden/
homer erzählt nach dem zweiten glas/ immer dieselbe story über/ seine
dienstzeit in der sowjetarmee/ bei der schwarzmeerflotte wo sie/ irgendeine
radioaktive ladung beförderten, heißt es, bevor die Runde gar
noch um Dante, Odysseus und Helena erweitert wird. Anderswo wird ein Sherry
mit Freund Don Quixote getrunken oder mit kühnem Alter ego der Augiasstall
besichtigt: herakles eugenijus dein leben/ ist voller mist nicht immer taugt
er/ zum düngen oder zu heizzwecken. Natürlich und zu Recht vermutet
man hinter diesem ironischen Blick durch die dreieinhalb-dioptrin-zynismusbrille,
mit der sich der Dichter selbst portraitiert, bei dem leichthändigen Jonglieren
mit kulturellen und historischen Versatz- und Erbstücken, vermutet man
hinter der Vermengung unterschiedlichster, mal salopper, mal gezielt pathetischer
Tonlagen eine postmoderne Poetologie. Die Gedichte bieten Raum für konträrstes
Material, für besoffene Fußballfans, für Metaphysik und Tschernobyl
ebenso wie für persönlichste Empfindungen, Zeilen etwa für den
Vater, der in sibirischer Verbannung lebte, als Eugenijus eben dort, in Barnaul,
geboren wurde: vater/ der du deine süße jugend ausschliefst auf
den schneefeldern/ der kolahalbinsel mit festgefrorenen haaren.
Dennoch wird man in Alisankas genau gefügten, dank konsequenter Kleinschreibung
und Verzicht auf Interpunktion und Strophe überaus gelenkigen Gedichten
postmoderne Beliebigkeit nicht finden. Vielmehr ließe sich auch auf seine
eigene Lyrik münzen, was Alisanka über den Dichter Gintaras Grajauskas
schreibt. Was in dessen Gedichten bleibe, sei „das, was gemeinhin übersehen
wird, wenn es darum geht, postmoderne Texte einzuschätzen: die Suche nach
neuen Ausdrucksmöglichkeiten, die dem sich wandelnden Verhältnis zu
Werten und zu den Manifestationen des Sakralen entsprechen. Unter den Masken
der Ironie bleibt ein Begehren verborgen.“ Die Masken wiederum, die Alisanka
in seinen Gedichten aufsetzt – dazu gehört auch die der Figur „Eugenijus
Alisanka“ – ermöglichen den neuen Blick auf Europas alte Historie,
auf die „ungeschriebenen geschichten“ darin, die dem Band den Titel
gaben. Jener „eine handbreit vom zentrum entfernt[e]“ Blick ist
am klarsten, die Geschichte an ihren ausfransenden Rändern am deutlichsten
wahrnehmbar: So scheint es, liest man etwa Alisankas Gedichte aus einer
ungeschriebenen kriegschronik und aus der geschichte des glaubens,
in denen ein namenloser Soldat zu einer weiteren unbegriffenen Schlacht zieht
und die Bartholomäusnacht aus der Anonymität eines Heuhaufens heraus
verfolgt wird. Am Rande des Imperiums ist die Sicht am besten. du
solltest deinen platz unter wasser akzeptieren/ zwischen farblosen algen/ kaum
zu sehen vom kahn aus/ unter den stummen fischen des sees/ wo das weichste lager
der schlamm ist/ und die besten träume die ringe der tropfen/ an der seeoberfläche,
ermahnt sich Alisanka in der geschichte der metamorphosen selbst: dein
platz ist unter denen die es/ nicht vermögen mit der lunge zu atmen/ denen
spiegelschuppen wuchsen/ die sich wälzen in einem trüben traum/ dein
platz ist sommer wie winter unterm eis/ gleich ob es dünn ist oder/ überhaupt
nicht existent. Was sich in diesen Schuppen spiegelt, darf aller Aufmerksamkeit
wert sein.
Jan Wagner
--- Eugenijus Alisanka: „aus ungeschriebenen geschichten“. Gedichte.
Litauisch und Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort von Klaus Berthel.
DuMont 2005