Und nie das Meer gesehn
Emily Dickinsons Lyrik in neuer Übersetzung
Fragt man nach den Wegbereitern der modernen amerikanischen Lyrik, so wird
neben Walt Whitman stets der Name Emily Dickinson genannt werden – womit
sich ein durchaus gegensätzliches Gründerpaar präsentiert: Während
der rauschebärtige Autor der „Leaves of Grass“ in der zweiten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts als Prototyp des prophetischen Dichters
an die amerikanische Öffentlichkeit drängte (und dabei durchaus ein
Talent zur Selbstinszenierung bewies), zog sich Dickinson, von deren über
eintausendsiebenhundert Gedichten zu Lebzeiten lediglich sieben veröffentlicht
wurden, immer mehr zurück – was sie, zumindest in der näheren
Umgebung von Amherst, Massachusetts, sehr bald zur Legende werden ließ.
Schon als junge Frau hatte Dickinson das dortige väterliche Anwesen nur
ungern verlassen. Ab Mitte der sechziger Jahre aber verzichtete sie ganz auf
einen Umgang mit der Welt jenseits des Grundstücks, der über das Verschicken
kunstvoll dichter Briefe hinausging. Sie bewohnte allein die obere Etage des
Hauses, wo sie, stets in Weiß gekleidet und umsorgt von ihrer Schwester
Lavinia, sich kaum sehen ließ, nur äußerst selten Besucher
empfing und sich mit aller Energie ihrer Kunst widmete: Eine äußerste,
selbstgewählte Beschränkung des Raums, die mit einer außergewöhnlichen
Steigerung dichterischer Intensität einherging. „Wenn mir buchstäblich
ist, als würde mir die Schädeldecke entfernt“, äußert
Dickinson 1870 einmal, „weiß ich, das ist Poesie. Nur so erkenne
ich sie. Gibt es andere Möglichkeiten“.
Es ist oft gerätselt worden, wie ein Werk, das unter weitestgehendem Verzicht
auf gesellschaftlichen Austausch entstand, gleichzeitig so reich an Themen,
so voller Einsicht in die menschlichen und zwischenmenschlichen Gefüge
sein könne. In der Tat scheint Dickinsons Lyrik zu beweisen, daß
Erfahrung keineswegs etwas mit Mobilität zu tun haben muß. „Ich
hab noch nie ein Moor/ Und nie das Meer gesehn –/ Weiß doch wie
Heidekraut aussieht/ Und wie die Wogen gehn“, liest man in einem Gedicht,
und an anderer Stelle heißt es: „Keine Fregatte nimmt uns mit/ Ins
Weite wie ein Buch/ Kein Rennpferd kommt der Seite gleich/ Wo tänzelt ein
Gedicht“. Dickinsons Vater, der die Finanzen des vom Großvater gegründeten
Colleges in Amherst verwaltete und eine Zeit lang als Senator in Washington
tätig gewesen war, beschaffte seiner Tochter die unverzichtbaren Bücher,
von denen er gleichzeitig fürchtete, sie könnten sie verderben und
ihren Geist zerrütten: Die englischen Klassiker, dazu die amerikanischen
Zeitgenossen, nicht zuletzt aber die von ihr geschätzten Lyrikerinnen ihrer
Generation. Zu Dickinsons Lieblingslektüre zählten die Gedichte von
Keats, auf dessen „Ode an eine griechische Vase“ und die darin enthaltene
berühmte Formel („Beauty is truth, truth beauty“) sie in einem
Gedicht von 1862 anspielt: „Er fragte sanft ‚Für was starbst
du?’/ ‚Für Schönheit’, sagte ich –/ ‚Und
ich – für Wahrheit – wir sind Brüder –/ Denn Die
sind Eins und gleich’ –// So redeten wir, blutsverwandt –/
Und Wand an Wand des Nachts –/ Bis Moos zu unsren Lippen stieg –/
Auf unsern Namen wuchs“.
Die Namen solcher Vorbilder sind es, die auch in den zahlreichen Briefen Dickinsons
immer wieder auftauchen: Emerson, Thoreau, Elizabeth Barrett Browning und Emily
Brontë; man erfährt von ihrer Erschütterung beim Tod der von
ihr verehrten George Eliot. Ähnlich wichtig wie die Lektüre aber ist
Dickinson der stete Austausch mit ihrer „select society“ –
mit ihrem Bruder Austin, mit Samuel Bowles, dem Herausgeber des Springfield
Daily Republican, mit ihrer Schwägerin Susan Gilbert, nicht zuletzt auch
mit der erfolgreichen Schriftstellerin Helen Hunt Jackson, die Dickinsons Talent
erkannte und sie immer wieder zu veröffentlichen drängte, und mit
Thomas Wendworth Higginson, ihrem selbstgewählten „Präzeptor“,
an den sie sich immer wieder ratsuchend wandte: „Sind Sie zu sehr beschäftigt
zu sagen, ob meine Verse leben? Der Geist ist sich selbst so nah – er
sieht nicht über scharf – und ich bin ohne Rat – Fänden
Sie darin den Atem – und Muße, mir’s zu sagen – fühlte
ich lebhafte Dankbarkeit“. Man möchte Satz um Satz zitieren aus diesen
Briefen, die, wie auch die Gedichte, jetzt erstmals in einer umfassenderen Auswahl
auf Deutsch vorliegen, die mit Zeittafel, den Biographien der Briefpartner und
Zeit und Umstände erläuternden Zwischentexten geradezu vorbildlich
ausgestattet ist. Dickinsons Briefe sind kaum weniger kunstvoll komponiert als
ihre Gedichte, die sie ihrer Korrespondenz oft beilegte und aus ihr heraus entwickelte,
und beeindrucken zudem immer wieder durch die Originalität ihres Denkens,
glanzvolle Bilder, einen oft respektlosen Witz und ihr Urvertrauen in die Sprache:
„Welch ein Glück, daß es Bücher gibt. Sie sind besser
als der Himmel, denn der ist unvermeidlich, sie aber könnten einem entgehen.“
Mögen die Sorgen, die Dickinsons Vater hinsichtlich ihrer Lektüre
hatte, übertrieben gewesen sein, so steht doch außer Frage –
erst recht nach Lesen der Briefe –, daß Dickinson, bei aller Zurückgezogenheit
und trotz ihrer engen Bindung an die Familie, eine für ihre Zeit ungemein
eigenwillige Frau war, die ihre überdurchschnittliche Bildung ohne Rücksicht
auf Konventionen zu nutzen gedachte: Nicht nur in den Liebesgedichten an ihren
„Master“, als den man den Kanzelredner Reverend Charles Wadsworth
identifiziert zu haben glaubt, auch in den anderen großen Themen ihrer
Lyrik – der Natur, dem Tod mit seinen „Demokratenfingern“,
der Metaphysik. In der Auseinandersetzung mit theologischen Fragen löst
sie sich sehr deutlich von den puritanischen Vorstellungen ihrer Umgebung: „Hier
unten – war ich nie daheim –/ Im schönen Himmel oben/ Werd
ich auch nie zu Hause sein/ Ich hab was gegen Eden“. Man verfolge etwa,
wie sich Dickinsons metaphorische Verbindung von Religiösem mit der Finanzwelt
und mit wirtschaftlichen Fragen durch ihr gesamtes lyrisches Werk zieht: Da
wird Gott zu einem stillen Funktionär und Eden zu einer Kaufoption, und
noch später wird Dickinson kokett fragen: „Ist Gott Finanzminister?/
Es heißt, wir wären Schuldner.“ Ähnlich eigenwillig und
unverwechselbar ist ihr Umgang mit der Sprache. Zwar sind ihre literarischen
Einflüsse deutlich erkennbar – die englische Dichtung, auch die King
James Bible haben ihre Spuren hinterlassen –, zwar ist insbesondere bei
der Strophenform und der Metrik ihr Rückgriff auf das Kirchenlied zu sehen,
vor allem zu hören, doch weist ihre Lyrik weit über den viktorianischen
Geschmack jener Ära hinaus.
Hochkonzentriert, manchmal bis zum Epigrammatischen verknappt, setzt sie der
Eingängigkeit vieler zeitgenössischer Verse eine sowohl syntaktisch
als auch semantisch sperrige Struktur entgegen: „Sag Wahrheit ganz, doch
sag sie schräg –/ Erfolg liegt im Umkreisen“. Neben der typischen
Großschreibung von Schlüsselbegriffen, die so aus dem Textkörper
herausgehoben und mit Bedeutung aufgeladen werden, ist es dabei ein stilistisches
Merkmal, das besonders auffällig ist: Immer wieder, oft mehrmals pro Zeile,
wird der Textfluß durch Gedankenstriche unterbrochen, die wie Fermaten
zwischen Einzelwörtern oder kurzen Satzteilen stehen und diese so einer
ungeheuren Spannung aussetzen – eine Technik, die Dickinson auch in ihren
Briefen erprobt. Mal kommt so die bildliche und gedankliche Entwicklung ins
Stocken, verharrt, mal gibt es einen jähen Bruch, der das Gedicht in eine
ganz andere, neue Richtung lenkt.
Bei alledem ist Dickinsons Lyrik von größter Musikalität, für
die ihre Übersetzerin Gunhild Kübler oft sehr überzeugende deutsche
Lösungen gefunden hat – sogar für Dickinsons innovative Technik
des unreinen Reims, des „off-rhyme“. Verse wie „A sepal –
petal – and a thorn/ Opon a common summer’s morn“ scheinen
mit ihren Binnenreimen und ihrem Klangreichtum kaum ohne Verrenkungen übertragbar
zu sein. Doch „Ein Blütenblättchen – und ein Dorn/ Am
Sommermorgen zu besorgen“ ist alles andere als ein schwaches Echo. Küblers
Übersetzung ist der Versuch, Dickinson auf allen Ebenen gerecht zu werden,
inhaltlich wie formal. Der Preis für dieses kühne Unterfangen ist
stellenweise eine Glättung des Gedichts, ja manchmal sogar eine Überführung
des singulären Originals ins Konventionelle – vor allem, wenn ohne
jede Not Wörter gewählt werden, die in Nachschlagewerken nur noch
mit dem verdammenden Zusatz „poetisch“ vermerkt sind: „Lenz“
für „spring“ etwa, das putzige „mein Lieb“ für
„Dear“ oder auch das Adjektiv „schwanke“, wo im Englischen
von „swaggering“ oder „swaying“ die Rede ist. Lösungen
wie diese scheinen das Gedicht an eine Zeit ketten zu wollen, der das Original
immer schon entkam, werden aber, oft gleich im Anschluß, durch äußerst
glückliche Übertragungen aufgewogen. In keinem Fall schmälern
sie das editorische Verdienst, Dickinson in einer breiten und überdies
zweisprachigen Auswahl zugänglich gemacht zu haben, die auch unvertrautere
Aspekte ihres Werks beleuchtet, die neben dem Dunklen, das man gemeinhin mit
ihrer Lyrik assoziiert („Das Dunkle – schien mir schön“,
heißt es einmal programmatisch), auch das Lichte, Humorvolle aufscheinen
läßt: „Zwei Sonnenuntergänge schick ich -/ Gefertigt um
die Wette mit dem Tag -/ Zwei hab ich – und auch manche Sterne -/ Indes
Er – Einen nur gebastelt hat -// Zwar war der seine breiter – doch/
Wie ich schon sagte einem Freund -/ Ist meiner – praktischer, bequemer/
Trägt man ihn in der Hand“.
Jan Wagner
Emily Dickinson: „Gedichte“. Englisch und deutsch.
Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Gunhild Kübler. München
2006
Emily Dickinson: „Wilde Nächte. Ein Leben in Briefen“. Ausgewählt
und übersetzt von Uda Strätling. Frankfurt am Main 2006