Dieses zartbesaitete Instrument
Die ehrgeizige „Bremer Ausgabe“ will den
ganzen Hölderlin
Was für ein Unternehmen: Eine Gesamtausgabe der Werke Hölderlins,
die nicht nur die Dichtung, sondern auch biographisches Material berücksichtigt,
die alles, was zu Schaffen und Leben zur Verfügung steht, umfangreich zu
präsentieren und miteinander in Einklang zu bringen versucht. Ein „Buch
des Lebens“ habe er vorlegen wollen, so der Herausgeber Dietrich Eberhard
Sattler, der sich seit Jahrzehnten dem Hölderlinschen Oeuvre verschrieben
hat. Im Gegensatz zu vorangegangenen Werkausgaben – insbesondere zur klassischen
„Stuttgarter Ausgabe“ – verzichtet die „Bremer“,
wie Sattler sie getauft hat, auf eine Klassifizierung nach Früh- und Spätwerk,
auf eine rubrikweise Einteilung in Oden, Hymnen, Elegien und Gesänge und
präsentiert weder den Hyperion noch das Fragment gebliebene Drama Empedokles
als Solitäre, die sich gesondert wahrnehmen ließen. Sattler geht
streng chronologisch vor, ohne poetisches und biographisches Material zu gewichten
und zu sortieren – so daß zwischen den Fassungen einer Elegie Briefe
stehen können, in denen ganz profan über den Versand von Wäschestücken
oder Reisetermine verhandelt wird. Man solle, schreibt Sattler, Hölderlins
Schaffen Schritt für Schritt nachvollziehen können: „Der Leser
sollte und will in diesem Fall vielleicht auch wissen, welchen Verhältnissen
und Umständen dieses Werk sich entrang. Und ging es denn je um die Kunst
als etwas an sich?“
Diese Frage ist so selbstbewußt wie provokant. Man muß nicht so
radikal ästhetizistisch pointieren wie ein Oscar Wilde, nach dessen Überzeugung
nicht die Kunst das Leben, sondern vielmehr das Leben die Kunst imitiere, um
sagen zu können: Selbstverständlich geht es immer vor allem und ausschließlich
um die Kunst an sich – und die hat Sattler schon in seiner großen
„Frankfurter Ausgabe“ in allen denkbaren Lesarten der handschriftlichen
Originale und unter allen philologischen Gesichtspunkten für sich selbst
sprechen lassen. Die Versuchung, Leben und Werk als Einheit zu sehen, ist zweifellos
im Falle Hölderlins seit jeher groß gewesen, größer vielleicht
als bei jedem anderen Dichter, und tatsächlich hat schon ein knapper Abriß
seines tragischen Werdegangs eine fast kathartische Wirkung. Aber ging es, andersherum
gefragt, denn je um das Leben an sich? Ist es nicht überflüssig, von
Hölderlins inniger Liebe zur Bankiersgattin Susette Gontard-Borckenstein
zu wissen, um die Oden aus jenen Frankfurter Jahren oder auch den Hyperion als
Dichtung zu erfassen? Die Neigung, jede Diotima eine Susette sein zu lassen,
sich auf das Biographische und somit auf eine formelhafte Lektüre zu beschränken,
ist zu verbreitet, mag man denken, als daß man ihr mit einer Leseausgabe
entgegenkommen müßte.
Trotzdem: Das Projekt, die Biographie nicht nur mit dem Werk zu kombinieren,
sondern sie sich durch chronologische Anordnung und eine komplette Präsentation
des Materials quasi selbst schreiben zu lassen, muß beeindrucken. Immerhin
liegt ihm die radikale Überzeugung zugrunde, daß das Leben lesbar
wäre, sich in nichts so gründlich manifestiere wie in der Schrift,
und daß sich deshalb durch Zusammenfügung aller, noch der geringfügigsten
sprachlichen Niederschläge ein ganzes Leben rekonstruieren, vom Leser noch
einmal durchleben lasse.
Dieser wird anfangs verwirrt sein – nicht nur, weil sich Sattler jeder
Modernisierung der Urtexte bis hin zum Buchstaben konsequent verweigert. Unübersichtlich
erscheinen auch die verschiedenen Schrifttypen und -größen, die Primärtexte
von Kommentaren, Dichterisches und literarische Entwürfe von Briefen unterscheiden
und so die gewaltige Textmasse strukturieren helfen. Die Dimension des Ganzen
mag daran erkennbar werden, daß die ersten verbürgten, jugendlichen
Verse Hölderlins auf der siebzigsten Seite des ersten von zwölf Bänden
erscheinen. Bis dahin wird vom Taufbuch über lange Listen, die die Hinterlassenschaften
des früh verstorbenen Vaters inventarisieren – Bücher, „Kleinodien
und Silbergeschmeid“, Kleider, Geschirr –, bis hin zu Gerichtsprotokollen
nichts ausgespart. Und mit derselben Akribie geht es weiter. Hölderlins
monatliche Ausgaben werden verzeichnet, Tage- und Stammbucheinträge wiedergegeben
oder auch dreißig überaus eng und klein bedruckte Seiten mit den
Statuten des Tübinger Stifts aufgeführt, wo Hölderlin von 1788
bis 1793 der ungeliebten Ausbildung zum Pfarrer nachging. Wie ergiebig aber
die Spiegelung von Werk und Leben sein kann, zeigt sich schon hier bei der Gegenüberstellung
von scheinbar belangloser Paragraphenreiterei mit den ersten entschiedenen Versuchen,
sich als Dichter zu profilieren. Von Stiftsseite aus wird die Kleiderordnung
detailliert geregelt (keine Perücken!), werden Strafen bis hin zur Karzerhaft
angedroht und „die fleissige Lesung der heiligen Schrift, und anderer
geistreichen Schriften [...] ernstlich anbefohlen“.
Auf der anderen Seite Hölderlin, der sich – wie Freund Hegel –
für die französische Revolution begeistert, der Freiheit eine Hymne
widmet und auch sonst nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig läßt,
was Fürstentum und „tausendzüngigte Pfaffenwuth“ betrifft:
„Zurük dann in die Zelle, Verachteter!/ Zurük zur schwarzen
Stätte, wo Menschenhaß/ Wo Schurkenblik den deutschen Jüngling/
Nieder zur mönchischen Schlange drücken.“ Daß Hölderlin
dieser Atmosphäre des Zwangs nicht frühzeitig entwich, geschah, man
weiß es, aus Rücksicht auf seine Mutter, derzuliebe „man wol
ein paar Jahre versauren“ könne. Doch der Konflikt zwischen zwischen
Mutterverehrung und Eigensinn ist schon hier überdeutlich und zieht sich
durch den gesamten, bei weitem umfangreichsten Briefwechsel zwischen Johanna
Christina Gock und ihrem Dichtersohn aus erster Ehe. Noch zehn Jahre später
verweigert sich Hölderlin, „weil nun einmal die vieleicht unglükliche
Neigung zur Poësie, der ich von Jugend auf mit redlichem Bemühn durch
sogenannt gründlichere Beschäftigungen immer entgegen strebte, noch
immer in mir ist und nach allen Erfahrungen, die ich an mir selber gemacht habe,
in mir bleiben wird, so lange ich lebe. Ich will nicht entscheiden, ob es Einbildung
oder wahrer Naturtrieb ist.“
So folgt man Hölderlin von Band zu Band, von Tübingen nach Jena, wo
er, protegiert vom „väterlichen“ Schiller, die ersten Entwürfe
zum Hyperion erarbeitet, nach Frankfurt und 1800, nach Beendigung seiner Beschäftigung
im Hause Gontard, weiter bis nach Bordeaux. Nach Susettes plötzlichem Tod
schließlich begleitet man den mittlerweile vom Schicksal deutlich Gezeichneten
– Schelling zeigt sich in einem Brief an Gustav Schwab überzeugt,
„daß dieses zart besaitete Instrument auf immer zerstört sey“
– nach Tübingen. Der Band, der sich diesem traurigen Exil in der
Obhut des selbstlosen Schreinermeisters Zimmer widmet, ist der kürzeste,
umfaßt er auch die längste Zeitspanne: An Hölderlins Zustand
ändert sich nichts, seine wenigen Briefe sind gleichlautend und knapp,
und nur ein Bruchteil dessen, was er in Schüben zu Papier bringt und mit
„Scardanelli“ oder „Buarotti“ unterzeichnet, ist erhalten.
So bleiben die Zeugnisse anderer, erschütternde Berichte wie der des Pfarramtanwärters
Albert Diefenbach, der den siebzigjährigen Dichter im Tübinger Turm
aufsucht: „Die innigste Liebe hegt er zu den Kindern; aber alle fliehen
den unheimlichen Greis. – Dann weint er.“
Man kommt der Einladung, beim Blättern nach textlichen Querverbindungen
zu suchen, Beziehungen zwischen Wirken und Vita nachzuspüren, gern nach.
Es ist erhellend zu verfolgen, wie Hölderlin in einer Zeit größter
Bedrängnis und Verdüsterung – sein Projekt, die Zeitschrift
Iduna, ist gescheitert, die Beziehung zu Susette Gontard findet nurmehr im leidenschaftlichen
Briefverkehr Erfüllung, sein Schwager ist gestorben, er selbst ringt um
die nötigsten Mittel für sich selbst – die „Ode an die
Hoffnung“ entwirft und sich an das ehrgeizige Projekt der Pindar-Übersetzung
macht. Nicht zuletzt führt Sattlers Entscheidung, auch Dokumente Dritter
aufzunehmen, zu einer aufschlußreichen Weitung des Blickfelds, ganz gleich,
ob es sich um die Briefwechsel von Freunden, um frühe Rezensionen zum Hyperion
oder um die kolportierte Reaktion Goethes und Schillers auf Hölderlins
ambitionierte Sophokles-Übersetzungen aus dem Jahre 1803 handelt: Sie hätten
Tränen gelacht, so erfährt man, als Johann Heinrich Voß ihnen
daraus vorlas.
Es wäre kleinlich, die bei einem editorischen Kraftakt wie diesem wohl
unvermeidlichen Druckfehler zu bemängeln. Auch eine überflüssige
Spitze gegen den Herausgeber der „Stuttgarter Ausgabe“, Friedrich
Beissner, läßt sich übergehen. Und selbst die Vorworte, in denen
Sattler eine Synopse der im jeweiligen Band verhandelten Lebensjahre bietet
– voller Empathie, doch mit einem stilistischen Hang zum Vorabendmelodram,
daß man augenblicklich wieder die strikte Trennung von Kunst und Leben
zu verfechten bereit ist – lassen sich notfalls überblättern.
Schwerer hingegen wiegt das Fehlen eines Registerbandes. Zwar verfügt jeder
Teil über ein dem Gesamtkonzept angemessenes chronologisches Inhaltsverzeichnis,
doch ohne einen ausführlichen Appendix mit alphabetischem Nachschlagewerk
und einer Unterteilung in poetische und biographische Texte ist dem unkundigen
Leser die Suche nach einzelnen Gedichten oder Briefen so gut wie unmöglich.
Die „Bremer Ausgabe“, die ja eine Ausgabe für Leser sein möchte
– und preislich in der Tat breitenwirksam sein dürfte –, setzt
eine Vertrautheit voraus, ohne die sich kaum gezielt durch die vielen tausend
Seiten manövrieren läßt. Eine „herkömmliche“,
systematisierte Werkausgabe ist deshalb fast zwingend erforderlich, wird jedenfalls
durch die „Bremer“ keinesfalls restlos ersetzt.
Die Lust am Blättern und Stöbern beeinträchtigt das nicht. Alles
lesen wird kaum einer können und wollen – am wenigsten die Stiftsstatuten
oder die zahlreichen Auflistungen. Doch gerade diese zähen Dokumente, die
Wiederholungen, die spröden Alltags- und Gebrauchstexte, machen den großen
Reiz der Edition aus, stehen sie doch am markantesten für den dem Projekt
zugrunde liegenden, herrlichen Widerspruch in sich, ein „Buch des Lebens“
erstellen zu wollen. Diese ganz banalen schriftlichen Schlacken einer Epoche
und eines Einzelschicksals sind für sich genommen uninteressant –
machen aber so Zeit und Dauer erfahrbar, die schiere Normalität zwischen
zwei Kunstwerken, den mühseligen Weg von Entwurf zu Entwurf. So wirkt gerade
diese großangelegte Ausgabe, die die Biographie fast gleichberechtigt
neben die Dichtung stellt und in bewundernswerter Sammelwut noch die kleinste
schriftliche Manifestation des Hölderlinschen Lebens und Leidens registriert,
dem Mythos entgegen und garantiert einen noch freieren Blick auf das, worum
es immer schon ging.
Jan Wagner
--- Friedrich Hölderlin: „Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente
in zeitlicher Reihenfolge“.
Herausgegeben und kommentiert von D.E. Sattler. Luchterhand Literaturverlag
2004. 12 Bände, ca. 3000 Seiten, € 99,-.
diese Kritik erschien zuerst in der Frankfurter Rundschau vom 5.8.05