Unter den großen Platanen
Kleine Gedichte von Abbas Kiarostami

Wenn man von Schauspielern und Beschäftigten der Unterhaltungsindustrie hört, daß ihr Beruf sie zwar zufriedenstelle, ihre wahre Leidenschaft aber dem Schreiben, besonders dem von Gedichten, gelte, so bedeutet das zunächst einmal nicht mehr, als daß die Poesie ein nach wie vor hohes Prestige hat, die Einkünfte anderswo jedoch besser sind. Dementsprechend skeptisch greift man zum ersten Lyrikband des iranischen Regisseurs Abbas Kiarostami, der, so der Klappentext, neben dem Filmemachen auch fotographiere, male und eben Gedichte schreibe, was „ihm selbst am allerwichtigsten ist“. Nach einigen Seiten aber stellt man fest, daß sein Debütband In Begleitung des Windes mehr ist als die Manifestation eines Steckenpferds und auch für solche Leser etwas bereit hält, denen die Filme des Preisträgers von Cannes und Venedig nicht vertraut sind.

Kiarostami hat sich in seiner Lyrik für die äußerste poetische Verknappung entschieden. Tatsächlich erinnert, wie Peter Handke in seinem Nachwort anmerkt, einiges an das Haiku, auch dann, wenn man von den wiederholt genannten Kirschblüten einmal absieht. Die meisten Gedichte bestehen, wenn auch nicht wie die japanische Form aus exakt siebzehn Silben, so doch aus nicht mehr als drei oder vier Zeilen. Es handelt sich um Miniaturen, die eine Naturbetrachtung mittels weniger, äußerst sparsam gefügter Wendungen zu fassen versuchen und sich oft ganz schnörkellos auf Subjekt, Prädikat und Objekt beschränken. Kiarostamis schönste Gedichte sind, und auch darin ähneln sie dem Haiku, nicht auf die schnelle Pointe aus, drängen dem Leser keine Lösung auf, sondern laden ihn ein, sich in das Detail zu vertiefen, der winzigen Reibung im vermeintlich Banalen nachzuspüren, um so den Sinnzusammenhang der wenigen Worte zu erweitern:
Dichter Nebel frühmorgens/ Über dem Baumwollfeld/ Donnergrollen in der Ferne
ist eines der Gedichte, die durchaus an die Kunst eines Bashu oder Issa erinnern. Einen ähnlichen Assoziationsspielraum bieten auch Texte, die sich vom Betrachter lösen und deren Figuren deutlicher im Alltagsleben verankert sind:
Sechs kleine Nonnen/ Schlendern/ Unter den großen Platanen// Rabenkrächzen
Welches Gewicht ist den Adjektiven „klein“ und „groß“ zuzuschreiben? Dem herausgehobenen Verb? Krächzen die Raben über die Nonnen, und wenn ja, warum? Sind gar die Nonnen durch einen Vergleich, der erst vom Leser vollzogen wird, identisch mit den Raben? So ergeben sich auf vielen der großzügig weiß belassenen Seiten reizvolle Konstellationen, werden zunächst unscheinbare Preziosen angeboten, die doch eine große, ja buddhistische Ruhe ausstrahlen können:
Die alte Nonne/ Frühstückt allein/ Summen des Wasserkessels

Das Verdienst dieser Sammlung ist es denn auch, den Leser das große Staunen über die kleinen Dinge zu lehren, den kostbaren Moment, die unerwartete Schönheit schmackhaft zu machen und ihn in der Kunst des geduldigen Betrachtens zu unterweisen. Kiarostamis Reduktionspoesie zupft eine Saite an in der Hoffnung, im Leser möge ein ganzes Orchester erklingen. Die heikle Balance zwischen Deutungsoffenheit und sprachlicher Präzision gelingt nicht immer, ist auch nicht immer gewollt, besonders dann nicht, wenn ein gesellschaftliches oder soziales Thema nach Zuspitzung und Deutlichkeit verlangt:
Hundert gehorsame Soldaten/ Begeben sich in den Schlafsaal/ Zu Beginn einer mondhellen Nacht// Ungehorsame Träume
Das ist prägnant. Doch Brillianz kann von einer Seite zur nächsten in Banalität umschlagen, ein Gedicht entweder allzu sentenzenhaft oder ausschließlich illustrativ sein. Manchmal auch wünscht man, daß der Autor sich nicht mit dem Skizzieren begnügt sondern eine Idee entwickelt hätte. In diesen Fällen bietet es sich an, den Band nicht als Sammlung einzelner Texte sondern als komponiertes Ganzes zu betrachten. Dann nämlich läßt sich den verschiedenen Motiven nachspüren, die Kiarostami aufgegreift und wieder fallenläßt – den Nonnen, den Kirschblüten, aber auch der schwangeren Frau, dem alten Hund, den Bienen und Vogelscheuchen, dem Frühlingsregen, dem Mond und dem Schnee. Sie alle sind scharf ineinander geschnittenen, unauffällig parallel verlaufenden Bildsträngen zugeordnet, aus denen sich Geschichten herauslesen lassen. So kann man etwa die Spinne auf ihrem Weg durch das Buch begleiten: Sie beginnt ihr Werk noch „vor Sonnenaufgang“, den Kiarostami sie zehn Seiten später betrachten läßt. Vom Leser fast schon vergessen, webt sie in der Mitte des Buches erneut ein Netz, diesmal zwischen „Kirsch- und Maulbeerbaum“. Einmal noch kurz ist es zu sehen, bevor es nach zahlreichen Exkursen zu anderen Motiven, anderen Handlungen heißt:
Die Spinnenarbeit/ Zweier Tage/ Wird weggewischt/ Vom Besen des alten Knechts
– ein Kunstwerk, das flüchtig ist wie ein poetisches objêt trouvé. So, als Steinchen in einem Mosaik, gewinnen auch die Gedichte, die für sich allein genommen keinen Funken schlagen, ihre fragile Schönheit zurück.


Jan Wagner

--- Abbas Kiarostami: „In Begleitung des Windes“. Gedichte, aus dem Persischen von Shirin Kumm und Hans-Ulrich Müller-Schwefe. Suhrkamp Verlag 2004, 240 Seiten, € 19,80.