(Reflexiomnen zu Brigitte Oleschinskis "Geisterströmung")

du, so un- // ruhig im Traum, schlägst / nach einer Mücke im Raum



Mechanik
In ihrem vor wenigen Jahren erschienenen poetologischen Grundbuch „Reizstrom in Aspik“ nennt Brigitte Oleschinski das, was sie zum Schreiben von Dichtung veranlasst, eine Art zu atmen, eine Art zu gehen. Von oszillierender Wahrnehmung ist die Rede, von einem Ticken im Körper, das von einem winzigen, unwägbaren Stich in Gang gesetzt wird.
Dem hoch reflektierten „Reizstrom“ hat Oleschinski jetzt eine „Geisterströmung“ folgen lassen, gewissermaßen die andere Seite eines Symbionten, der zum Einen aus dem Blick in die Mechanik des Dichtens und zum Anderen aus dem Blick des Dichtens in die Mechanik des Daseins besteht.

Streuung, Sog, Strom
Bei der „Geisterströmung“ handelt es sich, formal um ein Langgedicht, um eine ausgedehnte poetische Erkundung. Gleich auf dem zweiten der von der Wahrnehmung angespülten Blätter wird das Strömende nicht nur optisch, sondern auch innerhalb der Sprache sichtbar: ein Zirren taucht auf – eine semantisch zwischen Sirren und Zirpen flirrende Hybride. Später gibt es mit Flackern und Flattern weitere Resonanzen der Geistersphäre in ihre Bestandteile hinein.

Quellcode
Oleschinskis Gedichtkontinuum ist ein fesselndes Gebilde. Etwas, das man instinktiv als Poesie wahrnimmt. Transitorisch, transzendierend, hoch sensitiv. Man versteht den Quellcode intuitiv, auch wenn man ihn nicht immer und leicht entziffern kann. Hier, von Wahrnehmungskammer zu Wahrnehmungskammer, manifestiert sich das Bewusstsein durch die verschiedenen Teilgeister der eigenen Aufmerksamkeit.

Wirkstoff
eine Kirche gründen // aus Nelkenrauch, auf der Schwanzspitze Gottes, zwei / Gläubige nur // oder nicht einmal zwei /// das Gras flüstert / kniehoch – /// zunehmender Krieg // in seiner ersten Sichel, wenn in den Gräben das Fett zu tauen / beginnt, ein dünner Aufstrich nur / von Blauhelm-Margarine /// oder blaue Kleidersäcke // stadtauswärts, wo abends um die Absaugstutzen die Tarn- / flocken lungern, die zivilen Zellen / alle // schon zwei Größen kleiner

Fata Morganen
Man weiß nicht genau, ob diese oszillierende Dichtung hyper- oder hypostrophisch ist. Zwischen die einzelnen Inseln (Stromschnellen) der Zeilen sind voids gesetzt, von Sprache freie Bereiche, deren jeweiliges Ausmaß kein Resultat der Zwänge der Logik scheint. Auch dies gehört zum Aufregenden dieser Dichtung: dass die Sensoren nicht permanent auf Rezeption geschaltet sind, sondern sich immer wieder neu kalibrieren (müssen). Permanenz ist Illusion: der Fata Morgana auf den Lippen der Poesie folgt der geisterhafte Schaum unauslotbarer Leere.

Ubiquitäre Heimat
Die Geisterströmung hat keinen genauen Ort. Sie ist Reise, ist Stimme. Die Tonart musisch, der Blick weitgehend von haikuhafter Gelassenheit. Wir wissen nicht genau, welcher Art die geografischen Situationen dieser Gedankenübertragung sind: die Hintergründe sind nicht trittfest begehbar. Im Grunde gestaltet Brigitte Oleschinski eine ubiquitäre Heimat, die selbst zweifellos Transit ist. Über dem europäischen Blick liegt – die Biografie der Dichterein erklärt es – ein indonesischer, ozeanischer Hauch. Und die Adresse des lyrischen Ichs, so steht es im Text, lautet auf das Universum.

Reizgeister
Ich mag dieses Gebiet aus Partikeln, Knoten, Wucherungen und „Geistern“ als polyphrene Epiphanie bezeichnen. Sie emittiert ihre Reflexionen sporadisch und kittet sie nicht unnötig mit Modalmaterial zusammen. Umso stärker wirkt das Treibgut der als wesentlich erfassten Momente. Seltsame Körper sind in die Strömung gesetzt. Um als Reizgeister zu wirken vielleicht. Erdbebenshuttle, Katzenflammen und andere Singularitäten halten den Fluss hochgradig turbulent. Und zeigen andererseits in ihrer Obskurität, dass etwas nicht mehr zusammengeht – im Geist, und damit etwas Geisterhaftes hat.

Infrarot: positiv
Möglicherweise in diesem Zusammenhang schiebt sich das lyrische Ich wie selbstverständlich in die dritte Person. Das, was hier ich sagt, wird von außen betrachtet (Geschlecht weiß, Hautfarbe / weiblich). Auch das wir, der Rahmen also des privaten Ereignisses Ich, erhält eine solche Verrückung. Das ich ist Alien in (zu) seiner Umgebung, sagt das Gedicht, vielleicht.
Aber es entsteht deswegen kein kühler Ton. Infrarotaufnahmen der Geisterströmung wären überwiegend rötlich (blutige Lava). Der Sprachmodus erlaubt jedoch ein gezügeltes Verzeichnen der Dinge, ein Staunen an den Unreinheiten der ich- und der wir-Gegenwart.

Nie einfach
Galant überlappt Brigitte Oleschinski eigene Empfindungen jetzt (gleichmäßig graue Wach- / wärme jetzt) mit den faden Normalitäten und den Beben unserer Zeit (die aus den Fenstern stürzenden Kommas, klein / wie Menschen).
Nie einfach Bildabbildung, sondern höchst aufmerksam, wenn auch bewusst mit den verwackelnden Messinstrumenten von Wahrnehmung und Sprache gezeichnet, bietet (die) Geisterströmung eine wunderbare Erfahrung moderner Poesie. Einem Literaturzustand, in dem ganz verschiedene Linearitäten und Korrelationen zu entdecken sind.

Ron Winkler


Geisterströmung, DuMont Literatur und Kunstverlag, Köln 2005, 116 Seiten, mit Audio CD: Wie Gedichte singen