Poetik & Essay

2012 |  2011 |  2010 |  2009 |  2008 |  2007 |  2006 |  2005 |  2004
Startseite

Bertram Reinecke:

Gibt es die Aporien der Avantgarde und welche sind das?

Teil 1 im poetenladen


Teil 2: Wie ich an anderer Stelle untersuchte, handelt es sich bei Enzensbergers Aufsatz„Die Aporien der Avantgarde“ um eine Ansammlung argumentativer Finten. Warum können seine Thesen so unbeirrt heute noch Geltung beanspruchen? Liegt es wirklich allein daran, dass Scheuklappen offenbar allseits gewünscht werden um sich selber das Gefühl zu vermitteln, man habe als Leser die Übersicht, auch wenn einem nur ein geringer Teil der Verfahren und Möglichkeiten der Literatur lesend vertraut sind? Oder lassen sich weitere Gründe anführen, die vielleicht die Chance bieten, das Konzept Avantgarde jenseits eingefügter Begriffsbestimmungen neu zu durchdenken?

Es ist offensichtlich: Wenn eine Avantgarde mit dem Anspruch antritt, die Kunst einer (längst nötigen) Erneuerung zu unterziehen, wertet sie die bisherigen Kunstleistungen, den bisherigen Kulturbetrieb und seine Vertreter ab. Dass man sich so etwas vielleicht nicht ohne Widerstand bieten lässt, dürfte verständlich sein. (siehe Teil 1) Eine Abwehr, die nicht darauf angewiesen ist, sich mit der nicht mehr überschaubaren Vielzahl der ästhetischen Anfragen an das Herrschende auseinanderzusetzen, hat so gesehen große Chancen populär zu werden.[1] Interessanter wird es, wenn man eine andere Frage stellt: Warum dürfen sich selbst die Avantgard(ist)en, deren beleidigte Gegner längst ausgestorben sind und deren Verfahren oder Stilzüge in den Grundbestand der gegenwärtigen Kunst übernommen wurden, heute immer noch oft eines so schlechten Rufs erfreuen? Da der Literaturbetrieb zwar sicherlich manches„nie“ verzeiht, andererseits aber auch ein schlechtes Gedächtnis hat, soll zunächst ein Blick auf die Literaturgeschichtsschreibung geworfen werden, die ja nicht nur ihren Gegenstand beschreibt, sondern auch nach Kriterien, die nicht immer die impliziten Kriterien ihrer ästhetischen Gegenstände sein müssen, festlegt, was warum aufhebenswert ist und was nicht.[2]

Schnell ist hier zu bemerken, dass der von Enzensberger am konservativen Common- sense-Kritiker bemängelte Fokus auf die weltanschauliche Dimension von Kunst auch den Blick der Literaturgeschichte auf den Gegenstand Avantgarde verschiebt. Der inhaltliche Ernst ist ihm so wertvoll dass ihm der Ernst formaler Auseinandersetzung und pragmatische Neuerungen wie Konzepte des uneigentlichen Sprechens ständig aus dem Blick zu geraten drohen. Die ganze frühe Bunderepublik wirkt ja auf uns verklemmt und humorlos und ein epistemisch durchschlagender Ernst scheint ihr im Wesentlichen vor alle in Formen existenzialistischer Attitüde rrezipierbar gewesen zu sein. Auch mögen die verbissenen Auseinandersetzungen zwischen den Apologeten der Moderne und ihren hartnäckigen Gegnern das Bild etwas verzeichnen.[3] Schaut man sich die Produktion beispielsweise der Expressionisten in größerer Breite an, erweist sich dieser Blick als verschoben.[4] Van Hoddis' Gedicht„Weltende“, oft als Geburtsstunde des Expressionismus beschrieben, ist bekanntlich ebenso von ironischer Distanz geprägt wie das Werk Lichtenbergs oder das der Dadaisten. Schaut man sich aber von hier aus auch das Werk anderer Expressionisten genauer an, finden sich ironisch Synthesen auch beim ach so existentiellen Trakl (Verklärter Herbst). Kafka ist, löst man ihn aus der Aura des heiligen Sehers, mit dem die frühe Rezeptionsgeschichte ihn umgeben hatte, streckenweise von absurder Komik (Schakale und Araber). Becher hatte seinen Zeitgenossen einen schrillen lyrischen Ton verordnet und auch Gottfried Benns Schockvokabular in„Morgue“ wird nicht so sehr von den Schrecken der Vergänglichkeit handeln, wie ein naiver Deutschunterricht das nahelegt, sondern sich ebenso als ironische Provokation verstehen. Liest man den frühen Benn historisch, nämlich als Fisch im expressionistischen Wasser, und nicht von seinen tiefen, beinahe staatstragenden Reden der frühen Bundesrepublik her, tritt seine Abhängigkeit vom„bloß“ schalkhaften Klabund deutlich hervor, der von der Rolle eines Vorläufers in die eines Meisters rückt, ohne den viele Aspekte des Bennschen Werkes schwer denkbar sind.

Alle diese Feststellungen sind längst mehr oder weniger bekannt. Merkwürdiger Weise schlagen sie dennoch auf das Bild durch, dass die Literaturhistorie von dieser Epoche zeichnet. Und dieses unkorrigierte Bild wirkt als Vorurteil wieder zurück und verstellt weitere Einsichten. Stellt man sich dem Korpus der Werke ohne Scheuklappen, dürfte eine Literaturgeschichte, die eine Moderne als inzwischen historisch geworden beschreibt und von einer Postmoderne abgelöst sieht, kaum haltbar sein. Denn wenn ein ironisch distanzierter und verfahrenstechnisch interessierter Impetus auch für die Hauptwerke der frühen Modernen typisch ist, hat es keinen Sinn, die Prosa- und Hörspielwerke von Wolfgang Hildesheimer oder die Dichtungen von Rolf Schneider oder Robert Neumann als solche von Außenseitern der Moderne zu charakterisieren oder als Vorläufer der Postmoderne zu beschreiben. Sie wären allenfalls Außenseiter eines existenziell weltanschaulich geprägten Literaturbetriebs, was viel besser mit den Biografien dieser Leute zusammenstimmt. Ebenso wäre Brecht in diese Reihe einzuordnen. Wenig bekannt ist, dass er seine Meisterschüler an der Akademie der Künste Berlin (Ost) dazu ermunterte, sich in strengen Versen zu äußern. Wo der gestische Rhythmus zumindest in diesem Umfeld beginnt, Standard der Rede zu werden, bedeutet der strenge Vers wieder Verfremdung.[5] Oulipo eine moderne oder eine postmoderne Gruppe? Hat irgendwann ein Übergang zwischen dem modernen Oulipo und dem postmodernen Oulipo stattgefunden? Auch das eine absurde Frage, die die Trennung in Moderne und Postmoderne aufwirft. Oder soll man trotz des engen Gruppenbezugs scheiden: Hie der moderne Pastior, dort der postmoderne Calvino?

Ja man müsste, um das Begriffspaar Moderne / Postmoderne als Ordnungslinie in Frage zu stellen, noch einen Schritt weiter gehen: Für eine Postmoderne oft angeführte Merkmale wie ironische Distanz zu Verfahren, Reaktivierung von Sprechweisen, die ästhetisch abgenutzt sind, Spiel mit Zitat oder Einbindung von alltagsweltlichen Codes lassen sich allesamt an von Hoddis'„Weltende“ nachweisen. Zur Ironie hatten wir Stellung genommen, das Verfahren, streng fünfhebige Verse mittels klassischer Reimschemata in eine der gebräuchlichen Strophenformen zu binden, kann bereits seit Holz, Dehmel, Schaukal, Flaischlen oder Liliencron als veraltet gelten.[6] „Weltende“ zitiert Zeitungsmeldungen und enthält Alltagspartikel (hupfen/Schnupfen).

Wenn schon die Urszene des Expressionismus postmodern ist, dann lässt sich das Bemühen der Ismen nicht derart als freies maßstabloses Sprechen auffassen, wie es die Avantgardekritik gerne möchte, sondern diese Dichter stehen in viel komplexerem Verhältnis zu den Konventionen ihrer Zeit.[7] Moderne enthält dann bereits ihre eigene Postmoderne, deswegen kann diese jene nicht ablösen.[8]

Eng verwoben mit dem Vorurteil des eigentlichen (ernsten) Sprechens ist das Vorurteil, es stelle einen besonderen Wert dar, wenn das Kunstwerk eine innere Notwendigkeit aufweise. Dieses Vorurteil ist nicht nur deswegen problematisch, weil es zeitgenössischen Kunstrichtern nicht immer gelingt, diese Korrespondenzen, wenn sie denn vorhanden sein mögen, auch aufzufinden. Während es beispielsweise selbst einem heutigen Leser nicht schwer fallen dürfte, Trakls Grodek in dieser Richtung zu interpretieren, dürften die meisten damaligen Kunstrichter es als unförmiges Gebilde abgewertet haben. Problematischer sind aber zwei andere Gründe. Eines lässt sich am Traklbeispiel gut nachvollziehen: Es sind ja genau dieselben Textmerkmale, die dem einen als roh vorkommen, dem anderen als adäquater Ausdruck der vermittelten Inhalte. Ob man innere Notwendigkeit wertend zu- oder abspricht, ist damit eine Frage der Metasprache, die man auf den Text anwendet und nicht ein Merkmal der Kunst. Kann ein Interpret alle Merkmale eines Textes in seine Deutung einbringen, gewinnt seine Deutung an Sicherheit. Ein Text, der dieser Praxis entgegenkommt, muss allerdings nicht gleich der bessere Text sein. Vielmehr neigt eine interpretierende Umgangspraxis mit Texten, wie wir sie aus Deutschunterricht und Universität kennen, dazu, solche Texte zu bevorzugen, die mit der jeweils herrschenden Metasprache bzw. Theorie möglichst vollständig auslegbar sind.[9]

Neben dieser Überhebung der Wünsche bestimmter Textumgangspraxis zu einem Wertkriterium der Literatur scheren sich zahlreiche Texte um die Forderung nach innerer Notwendigkeit kaum.[10] Jedem der zahlreichen neugierigen Leser fremder, abseitiger oder lange vergangener Literatur, der nicht als Spezialist liest, geht es wie zahlreichen Avantgardisten[11] weniger um konsistente Sinnerlebnisse, wie es die Interpretationspraxis unterstellt, sondern um Überraschungen, gezielte Befremdungen und darum, einem zu allzu großer Konsistenz neigenden Weltbild Sprünge hinzuzufügen. Es ist wenig plausibel, ausgerechnet das Leseerlebnis derer, die Sinnstiftendes sich von literarischen Texten sozusagen auf dem Silbertablett servieren lassen wollen, als das tiefere und eigentliche zu privilegieren. Weitere Untersuchungen würden weitere akzentuierende Details an der Literaturgeschichte anbringen, nicht jede wird darauf hinauslaufen, so generell diese Geschichte neu zu erzählen. Um mich hier nicht in diesen Details zu verlieren, sei zuletzt noch untersucht, inwieweit Habitus und formulierte Gedanken der Avantgarden selber an diesem generellen Missverständnis mitgewirkt haben.

Einen Mangel, den die historischen Avantgarden mit ihren zeitgenössischen historischen Diskursen gemeinsam haben, ist die Unterbreitung ihres Anliegens als Fortschrittserzählung. Nicht im Medium einer Schwerpunktverlagerung oder eines Interessenwandels stellen sich die Avantgarden dar, sondern sie unterbreiten ihre Ansichten in einer Geschichte von Überbietung und Überwindung und verdecken damit, dass sie mitunter Anknüpfungsunkte haben, die oftmals sogar weiter zurück liegen, als die der„Traditionalisten“[12]. Vertieft wird dieser heroische Zug dadurch, dass sich die Avantgarden auch in anderer Weise zu ihren Ungunsten an die Gewohnheiten der Literaturhistorie angepasst haben, indem sie ihre Geschichte als eine von Durchbrüchen und Meisterwerken erzählen. Zu einer solchen Erzählung passen die wenig heroischen bürgerlichen Charaktere und ihre Handlungen oft nur schlecht. Angesichts der heroischen Geste, oft soll ja eine Jahrhunderte alte Verstrickung oder Verderbtheit der Künste beziehungsweise in deren Gefolge sogar der Menschheit überwunden werden, wirken ein paar Texte oder Kunstaktionen merkwürdig hilflos[13] und angesichts dessen lassen sich die großspurigen Manifeste leicht als pure Lippenbekenntnisse ins Unrecht setzen.

So scharf konturiert, so transparent ist die Grenze zwischen dem Neuen, dem Experiment und der hergebrachten Literatur nicht. Nicht nur, weil sich eine gefeierte Novität als„ bloße“ Wiederentdeckung erweisen kann. Der Künstler mag in der Regel noch einigermaßen wissen, was er tut. Vom Publikum oder dem Kritiker wird man das jedoch nicht in jedem Falle erwarten können. So scheitern Einordnungen des Neuheitsgehaltes oft systematisch, weil aus weiterem Abstand die Größe des Konventionsraumes, in dem sich ein Kunstwerk bewegt, kaum richtig abgeschätzt werden kann. Aus der Ferne scheint vielen Kritikern die Aussage plausibel, dass die konkrete Poesie„eigentlich“[14] nichts anderes tue als der Dadaismus.[15]Die globale Ähnlichkeit dieser Richtungen mag etwa der zwischen Goethe und Gernhard oder der zwischen Holz und Falkner entsprechen. Hier[16] sind wir gewöhnt näher hinzuschauen und sehen ein, wie wertlos eine solche Gleichsetzung ist, die zwar auffällige gemeinsame Mittel richtig benennt, ihre relative Häufigkeit, ihre Beziehungen zueinander und ihre jeweilige Funktion aber unterschlägt.[17]

Ein Publikum kann Avantgardekunst wiederum auch genießen, wenn ihr dieser pragmatische Status der Redeweisen entgeht, kann sich z. B. das starke Vokabular einer Redemanier existenziell zu eigen machen, kann mit Neugier inhaltliche Details, die der Autor als Spielmaterial auffährt, als Weltwissen verbuchen, oder sich einfach an der schroffen Neuartigkeit, an Rhythmen oder dem Happening erfreuen. Das Kunstwerk ist heute offener, gerade grundsätzlich Neues wird solcher Anknüpfungspunkte manchmal bedürfen und wo Kunstwerke nicht mehr auf innere Notwendigkeit setzen, ist der Mitvollzug irgend einer Autorenintention keine privilegierte Auffassungsweise mehr, von der sich andere unechte abgrenzen ließen. Ein solcher„Fehlleser“ kann ja unter Umständen sogar auf Strukturen der Kunst aufmerksam werden und reagieren, die sogar dem Autor entgangen sind. Auf die Einteilung in Richtig- und Falschverstehen bleibt hingegen jede Form von Lehre oder Indoktrination angewiesen, ein lebendiger Literaturkosmos kann sich ebensogut auf die Kraft des kreativen Missverständnisses verlassen.[18]

So kann im Gegenzug natürlich auch nicht jede Ablehnung, nicht jeder Protest, nicht jede gelungene Provokation die Novität einer Avantgardeströmung bezeugen. Avantgarde konnte ein bildungsbürgerliches Publikum mit dem unbedingten Anspruch des„Ich kenne mich aus“ verunsichern und provozieren, aber auch eine gelassene aber ganz unbürgerliche „Leck-mich-am Arsch“[19]−Haltung gegenüber dem herrschenden Literaturverständnis kann fruchtbar und gesund sein.

Und so lassen sich (öffentliche) Avantgardelektüren auch mit dem Begriff des Einverständnisses, ja sogar dem der Erlösung leichter verbinden, als ihre Geschichtsschreibung das wahrnimmt. Der menschliche Geist beinhaltet ja nicht zuerst konsistente Theorien, sondern ist voller Widersprüche. Da können von Fall zu Fall auch tief verborgene, schwache Saiten zum Klingen gebracht werden. Bloß weil das Publikum hie und da und widersprüchlich schon ahnt, was dem Künstler vorschwebt, kann seine Kunstleistung als Kunstleistung ja durchaus Neuheitswert haben. Die Novitäten eines Endler oder Papenfuß wurden als Happening und mit Aufatmen auch von einem Publikum goutiert, das dafür weder ein Abitur machen musste noch eine Literaturprüfung ablegte. Avantgarde muss nicht als später oder gar parasitärer Auswuchs am Baum der Literatur gesehen werden, sondern es kann ein authochthones Bedürfnis nach Novität bei einem Publikum geben, das die Leiden an den vergangenen Literaturstrategien nicht vollständig mitvollzogen haben muss. Jedem Brotgelehrtentum und jedem, der seine kleine Macht oder wenigstens sein Fortkommen im Literaturbetrieb zu verteidigen hat, kann es unheimlich sein, dass Literatur immer quecksilbriger und unfasslicher ist als ihre Theorie. Sie halten es darum mit Platon:„darauf müssen die Berater des Gemeinwesens halten, … daß keine ordnungswidrigen Neuerungen vorkommen in bezug auf Turnkunst[20] und Musenkunst, sondern daß es möglichst beim Alten bleibe, aus Besorgnis, wenn jemand spräche, daß demjenigen Gesänge besonders die Menschen das Herz zuwenden, der als der neueste je in dem Kreise der Sänger erschallet, so könnte manchmal einer meinen, der Dichter spreche nicht von neuen Gesängen, sondern von einer neuen Sangesweise, und könnte dies loben. Man darf aber derartiges weder loben noch als den Sinn des Dichters annehmen; denn eine neue Art von Musik einzuführen muß man sich hüten, weil es das Ganze gefährden heißt; denn nirgend wird an den Weisen der Musik gerüttelt, ohne daß die wichtigsten Gesetze des Staates mit erschüttert würden, wie Dämon sagt und ich überzeugt bin.“ Der Staat Platon-SW Bd. 2, S. 129 ff.


Autor: Bertram Reinecke



Anmerkungen

[1]: „Es gibt für jede komplexe Frage eine einfache Lösung und das ist die falsche.“ Chesterton

[2]: „Denn wer wolte gäntzlich verneinen / daß nicht zuweilen ziemliche Unwahrheiten mit unterlieffen / welche aus den gemeinen Geschrey entstanden / und hernachmahls mit zu Papier gebracht würden.“ Kirchmaier: Curiöse Historia von den unglücklichen Ausgange der Hamelischen Kinder S.3

[3]: „Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge“

[4]: Auch Enzensberger selbst scheint hier etwas dem von ihm kritisierten Vorurteil zu erliegen, wenn er die existenziellen Dichter Trakl, Heym und Kafka sozusagen vor dem Vorwurf des Ismus in Schutz nimmt.

[5]: Einer ähnlichen Verfremdung hat Brecht das kommunistische Manifest unterzogen, was keineswegs als Devotion eines frommen Marxisten zu verstehen ist. Marxist war Brecht schon, parteifromm sicherlich nicht. Eine theoretische Grundlage, in mythische Ferne gerückt, wird so erst vom zeitgenössischen Einspruch her anfragbar. Eine dialektische Bewegung ähnlich der Enzensbergers, die moderne Poesie ins Museum zu versetzen. Ähnlich steht es mit der für viele Interpreten irritierenden Bukower Elegie:„Bei der Lektüre eines sowjetischen Buches“, welche oftmals als stalinistischer Lapsus des Autors verstanden wurde. Allerdings gewinnt Brecht hier (und dies wurde oft übersehen) durch zahlreiche archaische und im Kontext der Elegien singuläre Verfahren Abstand zum geschilderten Sachverhalt. (Epitheta, nachgestellte Attribute, Antopomorphisierungen.) Gleichzeitig mag der Sprecher in diesem Text explizit nicht durch eigene Anschauung für das geschilderte Geschehen einstehen. (Es gibt zwar im Zyklus auch„Bei der Lektüre des Horaz“ bzw.„ … eines spätgriechischen Dichters“. Die Gedanken werden in diesen beiden Texten jedoch als die des sprechenden Subjekts eingeführt und nicht als Dokumente wie im Erstgenannten). Das Gedicht stellt dadurch die Märchenhaftigkeit der sowjetischen

[6]: Vielleicht sogar zu Recht sind fast alle diese Dichter aus dem Kanon gefallen, so sieht es ein wenig aus, als hätte der Bruch zwischen der metrisch geordneten Tradition und den zumindest weniger sicht- und abzählbar geordneten Formen erst zwischen dem ersten Weltkrieg und den 50ern stattgefunden und als wäre Holz nur eine frühe Schwalbe gewesen, die noch keinen Sommer macht. Schaut man sich aber alte Athologien an, wird man sehen, dass sich die ungebundene Lyrik schon kurz nach 1900 durchgesetzt hatte und dass die Verse der Expressionisten, aber auch die Rilkes, Georges oder Hoffmannsthals sich großteils als Rückgriffe verstehen (ob bewusst oder unbewusst). Bei den Frühvollendeten (Heym) mögen der konservative wilhelminische Gymnasialkanon und das Gesangbuch dabei eine große Rolle gespielt haben, wenn ihnen der Reim noch als Standartmittel vorkam. Als verslich auf der Höhe muss dagegen eher Bechers„Der Dichter meidet strahlende Akkorde“ angesehen werden, welches Flaischlens und Schaukals zur Anzeige erhöhter Gemütsbewegung entwickelte gegenrhythmische Technik radikalsiert und zum lyrischen Standard erklärt und damit zum direkten Vorläufer von Brechts gestischem Sprechen wird.

[7]: Das ist ja auch logisch: Avantgarden können die Mittel umwerten, gänzlich verzichten können sie auf solche nicht. Und wo immer man schaut, erweisen sich die von ihr aufgewerteten oder erfundenen Mittel als solche, die eine längere untergründige Vorgeschichte haben. Diese aufzuschließen und fruchtbar zu machen, ist eine Leistung der Avantgarden, die mindestens ebenso hoch zu bewerten ist, wie die Reflektion über den Wert künstlerischer Mittel und das viel seltenere Erfinden wirklich gänzlich neuer Verfahrenszüge.

[8]: Umberto Eco hat bereits vor 20 Jahren vorgeschlagen, den Begriff der Postmoderne mit dem des Manierismus zu verbinden. Folgt man Hockes gedankenreichem Buch „Die Welt als Labyrinth: Manier u. Manie in d. europ. Kunst. Von 1520 bis 1650 u. in d. Gegenwart. Band I.“, der unter dem nämlichen Begriff viele Züge dessen subsumiert, was wir heute für gewöhnlich postmodern nennen, würden der Großteil der Surrealisten, aber auch Werke von Picasso, Paul Klee und anderen unter diese Kategorie.

[9]: Wie stünde ein Deutschlehrer da, der seinen Schülern nicht beweisen könnte, dass seine Interpretation die Textmerkmale vollständiger ausdeutet?

[10]: Die innere Notwendigkeit teilt mit Maßstäben wie Genauigkeit (Präzision), Stimmigkeit oder gar Dringlichkeit noch ein anderes Schicksal. Wo die Maßeinheit, die Kriterien fehlen, wie dort, wo neue Konventionen ausprobiert werden, Vergleichsmaßstäbe also gar nicht vorhanden sein können, gerinnen diese Begriffe zu schwammigen Metaphern, die allenfalls als aufgeblasene Komplimente (bzw. Rügen) zu verstehen sind. (Oder soll man besser sagen: Hier zeigen sie endlich deutlich, dass sie mehr eben niemals sind?) Warum will sich das nicht so recht herumsprechen?

[11]: Und der Verzicht auf innere Notwendigkeit beschränkt sich auch nicht auf Avantgardeliteratur, wie Georg Kreislers Bonmot über das Verfassen eines schwarzhumorigen Chansons beweist:„Man nehme ein schreckliches Thema, übertreibe es maßlos und gebe dem Ganzen eine Melodie, die überhaupt nicht dazu passt.“ Wer es ernster will: Kirsch zeigt in seinem Buch„Ordnung im Spiegel“, wie Georg Maurer die Pfade innerer Notwendigkeit verließ, indem er indiosynkratische Volten in seine Texte einbaute.

[12]: Der Rückgriff des russischen Futurismus auf kirchenslawische Vorbilder, die Wiederentdeckung des Barock in Naturalismus und Expressionismus usw.

[13]: Was soll man auch tun: Auch Avantegardisten sind ja nicht von vorn herein anerkannte Meister ihres Faches, sondern zunächst Menschen wie du und ich. Dieses Naserümpfen erinnert etwas an die in Witzblättern nach dem 1. Weltkrieg verbreiteten Ebertkarikaturen, die völlig unpolitisch aufs Korn nahmen, dass eine so bürgerliche Gestalt wie er nicht das Format hat, eine so bedeutenden Nation zu führen.

[14]: So ein„eigentlich“ scheint mir oft ein Unwohlsein, ein Ahnen der Inadäquatheit solcher Aussagen verbergen zu wollen.

[15]: So Falkner in Bella Triste 17

[16]: Näher dem Zentrum: Was das Zentrale in einer Kunst ist und was der Rand, bestimmt sich aus solchen Routinen des Hinsehens. Aus der Nebensächlichkeit der einen Kunst erwächst das Wesentliche der Folgenden. Während vor dem Buchdruck der Text ja„nur“ eine Handreichung für den lebendigen Vortrag darstellte, beeinflussen viele Innovationen Thomas Klings„nur“ den Vortrag und nicht„den Text selbst“. Hans Heinz Stuckenschmied macht in seinem an Kenntnisreichtum ansonsten schwer zu übertreffenden Essay im „Monat“ 12/1958 Stockhausens Frage nach der Positionierung der Musiker im Raum als Nebensächlichkeit verächtlich„Die Buben sollen erstmal Fugen schreiben lernen ...“ Er übersieht mit seinem eng an Schönberg und Adorno angelehnten Musikverständnis, wie tief diese Frage die neue Musik strukturell verändern kann. Wie in diesem Beispiel Schönberg kann in Literarischenseminaen Reinard Priessnitz unversehens in die Rolle eines Avantgardverhinderers rutschen. Seine Idee einer Nomenklatur von möglichen Modernen legt nahe, dass eine Fortschreibung nur unwesentlich Neues brächte. (Obwohl ein Hinausgehen über das, was seine Texte als Wesentlichkeiten implizieren, ja aus der hier geschilderten Sicht gerade der Beginn einer Neuerung wären.) Eliots begabte Nachfolger werden aus den gleichen Gründen unterschätzt. Ist der„wesentliche“ Schritt durch den Meister getan, sehen die folgenden Schritte unbedeutender aus, als sie in Wirklichkeit sind.

[17]: Fehlbewertungen aus diesen Gründen unterlaufen natürlich auch Avantgardisten: Anlässlich eines der ersten Auftritte des Komponisten in Deutschland führt der in der vorigen Fußnote genannte Aufsatz John Cages Werk auf das Cabaret Voltaire sowie bis auf eine Arbeit der Komponisten Johann Phillip Kirnberger von 1793 zurück, um Cage jede Bedeutung als Neuerer der zeitgenössischen Musik abzusprechen.

[18]: Kennerschaft ist allerdings wichtig, besonders als Machtfaktor im Literaturbetrieb und wird deshalb von deren Agenten als notwendige Voraussetzung für die Kunstrezeption überschätzt. Auf das Bekenntnis eines angesehenen Literaturkritikers:„Ich weiß auch nicht, was man denn heute noch Neues machen könnte.“ antwortete ich:„Na, sie als Kritiker müssen das ja auch nicht unbedingt wissen.“ Von den anwesenden Schriftstellern wurde diese Antwort im Nachhinein allgemein als mutig angesehen. (Immerhin war der Kritiker konstruktiv genug, nach Beispielen zu fragen, die er als solche für interessante Neuerungen auch anerkannte.)

[19]: Oder wie der Lateiner sagt:„Lex mihi ars“

[20]: Simultangedicht.