Poetik & Essay

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Anja Utler

Poetisch-ökologische Aufbruchskanten
oder Auf die Knochen der Sanftheit




Lassen sich poetisch und gedanklich fordernde Beziehungen zwischen Ökologie und Literatur herstellen? Rein thematische Verknüpfungen sind, wie immer, zu wenig. So aber, wie einerseits die Ökologie und andererseits unsere Kultur verfasst sind, entstehen zwischen beiden substanzielle und produktive Reibungen; sie will ich im Folgenden skizzieren.

Ausgangspunkt.
Die Ökologie erforscht Wechselbeziehungen zwischen Lebewesen und ihren Umwelten. Sie zeigt, dass Leben als Isolation nicht denkbar ist. Sie erkundet, wie sich lebendig gewordene Stoffe in Zweischneidigkeiten wie Nähe und Abhängigkeit, Macht und Fürsorge, entfalten und eingrenzen.

Defaults.
Ökologie und Literatur zu verknüpfen, scheint überflüssig. Erstens sind Texte, die sich in Information, Propaganda oder Betroffenheit erschöpfen, keine Literatur. Wie Brigitte Kronauer formuliert: Überzeugend sei „Literatur allein dann, wenn sie als Gattung auf ihrem Arbeitsfeld durch nichts anderes zu ersetzen ist und Komplexeres als Information und Analyse [...] dabei herauskommt." Wirklich politische Literatur lenke nicht vom Ich ab, sondern „öffnet [...] den Blick auf verschwiegene, übergangene, auch geleugnete Seiten unserer eigenen Existenz."[1] Voilà. Zweitens prägen Beziehungen zwischen Lebewesen jedes Denken und Handeln – also auch die Literatur; dort auf sie zu pochen könnte daher tautologisch wirken. Doch auch was sowieso und immer da ist, wird oft durch ein Raster aus Vorannahmen wahrgenommen, das manche Aspekte der Existenz klar und natürlich scheinen lässt, und andere verdunkelt. Die momentanen default-Einstellungen blenden ökologische Bedürftigkeiten und Gnadenlosigkeiten der einzelnen menschlichen Ichs aus. Zwei dieser defaults betreffen Perspektive und Information.

Perspektive.
Verschiedentlich ist gezeigt worden, wie der westliche Mensch sich als exzentrisches Wesen sieht: er ist nicht Teil der Welt, er ist ihr Beobachter. Als der einzig Inspirierte hat er das Recht, Gebrauchsoptionen einer bloß mechanischen Natur auszulesen und zu nutzen.[2] Die Folgen: bekannt. Der Philosoph Lambert Wiesing schlägt deshalb vor, den Entwurf menschlicher Wahrnehmung als „Weltzugang" (von außen) als „zutiefst unökologische Hybris" aufzugeben, und stattdessen konkret die „Relationen" zu erkunden, in welche das Ich „verstrickt" ist, sowie das „Dasein”, in das die Wahrnehmungen als „Folgen der Wirklichkeit" das Ich zwingen.[3]

Information.
Der Philosoph Michel Serres sagt, die körperliche Härte der Sache „zerreiß[e] die Haut"[4], sie strebe aber zugleich zur Sanftheit der Sprache. Denn alle „Energie" gehe „in Richtung Information", das „Materielle [...] in Richtung [...] des Sinns." Genau diese Entwicklung ist zu beobachten. Und ist es Zufall, dass gerade das 20. Jh. sich neben seiner Produktion monströser körperlicher Fakten auch ein eskapistisches Och, ich habe zu einer außersprachlichen Realität eh keinen Zugang... zurechtgelegt hat? Deshalb fordert Serres: „Ich verlange nur, dass man sich an die harte Lösung erinnert." Diese Forderung hat Bestand: solange die cloud keine Computer herabregnet, bleibt die umfassend-wolkige Sanftheit Verlogenheit. Bleiben übergangene Härterelationen – deren sich die Künste durchaus annehmen. Für den Literaturwissenschaftler Raoul Eshelman endet mit Filmen wie Jim Jarmuschs Ghost Dog die postmoderne Ironie. Das totale Flottieren von Bedeutung werde durch ein framing gebrochen: das Individuum setzt sich einen Rahmen, innerhalb dessen die Entfaltung verbindlicher Bedeutung sichtbar wird.[5] Ähnliches ist aus performativen Ansätzen in Theater und bildender Kunst vertraut. In der deutschsprachigen Literatur aber wurde vielfach gezögert – vor dem allgemeinen Streben ins Sprachlich-Sanfte ist das zum Teil verständlich; stärker aber noch als die Produktion blendet die Rezeption solche Möglichkeiten aus.

Rahmen.
Ein Rahmen lässt sich setzen. Oder erkennen. Einen unhintergehbaren Rahmen formen die harten Kanten der Ökologie. Die Körper sind begrenzt darin, wie sie sich bewegen, denken, wahrnehmen und fühlen. Sowie in ihrer Bedürftigkeit und Macht – denn ein ökologischer Rahmen ist immer Bezugsrahmen aus den Relationen verschiedener Körper. Wer nach den ökologischen Optionen der Literatur fragt, braucht sich damit nicht allein auf den Zustand der Umwelt berufen; die westliche Kultur selbst – der es nicht mehr gelingen will, sich in beliebige Distanzierbarkeiten hinaus zu fantasieren – treibt ihre literarische Erforschung voran.

Die Poesie.
Das Erfahrungsmedium Poesie kann die Idee einer ökologischen Perspektivierung aufgreifen und, bezogen auf ihre jeweiligen Themen, konkret entwickeln. Sie kann ökologische Härten, statt sie zu nennen, sprachlich verkörpern. So ließe sich die Betrachterperspektive in der Sprache destabilisieren und Rezeption in die Aktivierung der entworfenen Bezüge durch den Leser verlagern. Manche Autoren zeigen zudem, dass Blick nicht exzentrisch zugreifend heißen muss – Nico Bleutge etwa erforscht ihn weniger im Panorama, denn in seinem körperlichen Rahmen: auf der „schiene des lids"[6] schieben sich Steine, Wasser, Tiere vor das enge Auge. Der „sichtausschnitt" aber zeigt immer einen innerlich multiplizierten Ort – der sich aus sich türmenden Schichten zeitlichräumlicher Gesetzmäßigkeiten, die die menschlichen übersteigen, dynamisch herausbildet und vergeht: „die vögel / waren längst verschwunden, der himmel / hielt noch ein weilchen jene luft / die unter ihren flügeln rauschte". Das Betasten der Anderen über die eigene Netzhaut öffnet hier das Unverfügbare. Dieses Unbekannte aber übersteigt die sprachlich-logische Semantik und fordert alle Bedeutungsdimensionen: rhythmisch-sensorische, lautlichemotionale etc.[7] Bleutges Texte sind nicht umsonst Gedichte. Nicht umsonst nutzen Mara Genschels performances die Semantik des Körpers: wenn sie den nervös-stilisierten Dichterinnenkörper mit der peinvollen Rede eines Blumen‐ Ichs kreuzt, reiben sich aus Interferenzen wie nackter Unvereinbarkeit beide Lebewesen in ihrer je unantastbaren Eigenheit hervor. Ich weiß nicht, wie diese Autoren zu Ideen einer „ökologischen Perspektivierung" stehen, und ich muss es nicht: denn ich sage nicht, dieses Stichwort erfasse die Texte. Ich sage nur: sie haben auch eine ökologisch lesbare Dimension. Denn Nico Bleutge bedeckt mein Auge mit Wahrnehmungen und zeigt, wie sich aus ihnen Körper bildet – während die Gesehenen entfliehen. Mara Genschel lässt das Dasein der anderen wie Knochen in der sprachlichen Sanftheit spießen. Beide poetischen Erfahrungen lassen sich in kein abheftbares Fazit umwandeln – und verfangen sich gerade deshalb im Körper, graben ihre Muster ins Gehirn. Die den Blick immer wieder brechen und auffächern, gerade wenn er sich auf andere richtet. Die immer wieder ins Denken hinein stochern, gerade wenn es versucht, sich klar zu werden und sich mitzuteilen. Ich würde das Veränderung nennen.



[1] B. Kronauer. Mit Rücken und Gesicht zur Gesellschaft. Über Politik in der Literatur.
In: Wespennest, 2012: 162. S. 88-96, hier S. 90 u. 92

[2] Vgl. z.B. H. Blumenberg. Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a.M., 1998.
Und: H.-U. Gumbrecht. Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a.M., 2004.

[3] L. Wiesing. Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie. Frankfurt a.M., 2009.
S. 87, 69, 120 u. 115.

[4] M. Serres. Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt a.M., 1998. [Franz. Original: 1985]. S. 148, 151 u. 147.
[5] Vgl. R. Eshelman. Performatism in the Movies (1997-2003). In: Anthropoetics 8, 2002:2.
{http://www.anthropoetics.ucla.edu/ap0802/movies.htm}

[6] N. Bleutge. klare konturen. gedichte. München, 2006. S. 9, 14, 12.
[7] u Bedeutungen, die der Sprache inkommensurabel bleiben, vgl. E. Fischer-Lichte. Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M., 2004.


// Anja Utler