"-//W3C//DTD XHTML 1.0 Transitional//EN" "http://www.w3.org/TR/xhtml1/DTD/xhtml1-transitional.dtd"> lyrikkritik

Rezensionen

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Dirk Uwe Hansen // zu Miron Białoszewski „Wir Seesterne“. Gedichte, polnisch und deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Dagmara Kraus, Verlag Reinecke & Voß:

Es gibt immer gute Gründe, das Buch eines Autors zu kaufen, von dem man noch nie etwas gehört, geschweige denn gelesen hat. Das Cover zum Beispiel; verpönt, zugegeben, aber dennoch: die Abbildung eines von Hand redigierten Schreibmaschinen-Typoskriptes hat mich tatsächlich angezogen und neugierig gemacht. Der Verlag mag eine Rolle spielen. Nach Schwedes, Bertrand und Hoprich sollte, wer Gedichte schätzt, den Verlag Reinecke und Voß ohnehin sorgfältig beobachten. Und schließlich: die Übersetzerin; wenn eine Dichterin, die einen so deutlichen eigenen Ton hat, Gedichte übersetzt, dann darf man sich das nicht entgehen lassen.

Was auch immer meine Motivation gewesen sein mag, die Entscheidung für den Kauf des Buches war richtig. Die Lebendigkeit und Präzision, die ich mit dem Bild auf dem Umschlag assoziiere, findet sich in allen Gedichten wieder; mit Miron Białoszewski hat der Verlag nach Aloysius Bertrand und Georg Hoprich erneut einen Autor der Vergessenheit entrissen, der nie hätte in Vergessenheit geraten dürfen; und die Übersetzung ist ganz wunderbar. Wenn ich dieses Urteil auch nicht auf Kenntnis der polnischen Sprache gründen kann (die ich leider nicht einmal auf Touristenniveau beherrsche), so kann ich doch beobachten, dass in den Gedichten nirgends ein falscher Ton zu finden ist, keine klapprige Unbeholfenheit, kein gestreckter oder gestauchter Vers, wie es oft in Übersetzungen vorkommt, vielleicht in manchen Übersetzungen mit mehr dokumentarischer Absicht vorkommen muss. Kraus übersetzt, als habe sie genau dieses Gedicht eben selbst schreiben wollen. Mehr mehr, schreit der Leser und wünscht sich zugleich, er könnte die Gedichte auch im Original lesen (Notiz an mich selbst: untersuche dieses Paradoxon der Übersetzung, dass, je besser die Übersetzung auf eigenen Füßen stehen kann, desto stärker der Leser sich wünscht, auch den Originaltext zu verstehen). Kraus ordnet die Gedichte in drei Kapitel, ein viertes ist Nachdichtungen verschiedener Dichter gewidmet. Die Reihenfolge der Gedichte ist nicht chronologisch, sondern thematisch, so macht diese Auswahl einen erfreulich geschlossenen Eindruck. Bedauerlich ist es dennoch, dass dabei keine Informationen zur Entstehungszeit / Erstveröffentlichung der Gedichte gegeben werden, und auch die am Ende aufgeführte Reihenfolge der Veröffentlichungen der einzelnen Stücke nur eine relative Chronologie zulässt. Bedauerlich deswegen, weil einzelne Gedichte immer wieder Autobiographisches anklingen lassen: „Ich bin rübergelaufen / in das wilde Land mit Weichsel“ heißt es im ersten Gedicht der Sammlung, im Gedicht „Erstes Fa...“ ist die Rede von einem Sanatoriumsaufenthalt, in „Irrige Rührung“ heißt es: „der Białoszewskige nickt ein / und das passt ihm nicht“. Hier wüsste ich gern mehr.

Zwei Eigenschaften sind es, die die Gedichte Białoszewskis mir so wertvoll machen: zum einen die Liebe zum Wort, die sich immer wieder zeigt, zum anderen der Ton, der stets behutsam bleibt, auch wenn große Themen angesprochen werden. Niemals dröhnt es aus diesen Gedichten, nichts kommt mit großer Geste daher, nichts wirkt gewollt. Wunderbar lakonisch etwa platziert Białoszewski einen Kuhfladen in das Gedicht „Länger weiden“:

LÄNGER WEIDEN

heute wittert der Treiber der Zeit
einen Duft von Päonien und Cellos,
recht findig, es wirkte
er kehrte um
mit der Zeit wie mit Kühen
blieb stehen
kehrte wieder um
denn er erinnerte sich
an die Angst vor dem Rückwärts
und dann ging er dem Schwanz der Zeit nach
so langsam
dass die Zeit schier ... einen Haufen machte

Vieles ließe sich hier noch anführen („den Tod den Tod / so übergroß / dass die Lust vergeht / am Stolz des Sterbens“, „Am Faden entlang / blicke ich in die Ecke / zum Knäuel aufgewickelt / liegt die Unendlichkeit“: das sind Verse, in die man sich verlieben kann. „Die Ballade vom Heruntergehen zum Laden“, da verliebt man sich gleich schon in den Titel.) Worte werden in diesen Gedichten benutzt, nicht weil sie groß und bunt sind und gut klingen, sondern weil der Dichter sie geprüft hat; „und schält man die Worte ab von den Dingen / schrumpfen sie nicht / sie büßen nichts ein“ so beginnt das Gedicht „Schälen“, und zehn Seiten später beweist uns das Ende des Gedichtes „Selbst, ach, selbst wenn sie mir den Ofen nähmen ...“ dass das stimmt:

„Und mir reicht das
große bloße Loch
große-bloße-loch
gro-ße-blo-ße-loch
großebloßeloch.„

Ebenso lakonisch und präzise ist Białoszewski Arbeit an der Bestimmung der eigenen Position in der Welt. Der Zyklus „Auszüge vom Meer„ legt davon Zeugnis ab, in dessen letztem Gedicht es heißt: „Wir sind auf einem flachen Abschnitt einer kleinen Scheibe der Erde, / das heißt des Meeres.“

Wem aus Mangel an Sprachkenntnissen verwehrt bleibt, die Übersetzungen mit dem Original zu vergleichen, der bekommt glücklicherweise im letzten Kapitel „Nachdichtungen„ die Gelegenheit, Übersetzungen verschiedener Dichter zu drei Vierzeilern Białoszewskis nebeneinanderzuhalten. Wie unterschiedlich es dabei zugehen kann, zeigen schon die Überschriften zum letzten der drei Gedichte „KWADRAT MOWY O SOBIE“:

Rede von mir, quadriert (Cusanit)
Redequadrat von mir (Kraus)
Rede im Spiegel der Rede (Lange)
Redegeviert von mir (Reinecke)
Quadratisch gequatscht (Rinck)
Sprechen Quader von mir selbst (Stolterfoht)

So wünscht man sich mehr Ausgaben dieser Art, in denen nicht nur Original und Übersetzung nebeneinander gestellt werden, sondern gleich noch Übersetzungen unterschiedlicher Übersetzer dazu. Man wünscht allen weiteren Dichtern, die vom Verlag Reinecke und Voß noch zu entdecken sind, ebenso schöne Übersetzungen. Und man wünscht sich bald noch mehr von Białoszewski.

Verlag Reinecke & Voß Miron Białoszewski, „Wir Seesterne“

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